Anidas Prophezeiung
Dorkas haben mich stets gut versorgt.« Sie trank und hob Tallis fragend die Karaffe entgegen. Die alte Grennach nickte und leerte ihr Glas, um es sich neu auffüllen zu lassen.
»Also lass uns zur Sache kommen«, sagte Tallis nach einigen weiteren stillen Minuten. »Du hast mich in die Enge getrieben, Tochter meines Nestes. Ich hätte nicht gedacht, dass du einen derart hinterhältigen Zug machen würdest. Ich scheine dich unterschätzt zu haben.«
Ylenia lehnte den Kopf zurück und seufzte. »Ich wollte den mir verliehenen Ehrentitel niemals ausnutzen, Tallis, das weißt du. Aber dein harter Grennach-Schädel lässt mir keine Wahl. Ich muss wissen, was du über diese Prophezeiung weißt. Und ich muss unbedingt erfahren, was meine Mutter darüber herausgefunden hat. Du warst ihre engste Freundin, Tallis. Warum hat sie diese Ungeheuerlichkeit begangen, Adina zu entführen und das Wissen um ihre Existenz aus all unseren Köpfen zu löschen?«
Tallis stellte ihr Glas ab und legte die Hände ineinander. Ihr Blick richtete sich auf die Herzen, die in der Sonne funkelten, und sie schien ihre folgenden Worte an sie zu richten. »Der Wortlaut der Prophezeiung ... Er schien mir nicht richtig zu klingen. Kannst du ihn mir in meiner Sprache sagen, Ylen?«
Die Oberste Hexe schüttelte sacht den Kopf. »Ich habe ihn wörtlich zitiert, wie ich ihn in unseren Aufzeichnungen gefunden habe. Ich habe diese Prophezeiung so oft gelesen, dass ich inzwischen jedes Komma davon kenne. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Schriftrolle vor mir, die verblichene alte Schrift, ich weiß, an welchen Stellen die Schreiberin ihre Feder neu eingetaucht hat, ich sehe die vergilbten Stellen, an denen die Jahre die Tinte fast ausgelöscht haben ... Glaub mir, Tallis, der Wortlaut stimmt.«
Tallis knurrte leise. »Das glaube ich dir«, sagte sie ein wenig unwirsch. »Nein, ich denke, die Übersetzung ist es, die mich stört. In unserer Sprache ...«, sie murmelte ein paar Worte, die Ylenia nicht verstand. »Was bedeutet deiner Meinung nach der ›Katzenstern‹? Und was die ›schwarzen Mauern‹? Komm schon, Nesttochter, du sprichst unsere Sprache fast so gut wie ich. Was denkst du?«
Ylenias Augen verengten sich, und sie zog die Brauen zusammen. »Nestmutter, versuchst du, mich abzulenken? Ich hatte dir einige Fragen gestellt, erinnerst du dich?«
Tallis streckte die langen Arme aus und zischte erbittert durch die Zähne. »Chla'dach!«, fluchte sie. »Ihr Menschen! Ihr seht niemals, was direkt vor euren Augen liegt. Wenn wir diese Prophezeiung richtig deuten, dann bekommst du deine Antworten, Nesttochter. Aber wir können sie nur dann deuten, wenn wir den richtigen Wortlaut haben. Ich kenne diese Prophezeiung natürlich, sie stammt aus der Zeit, als die Kletterer noch auf den Schultern der Baumwesen lebten. Aber ich bin keine Tlen-na'Tias, ich erinnere mich nicht an jede Einzelheit. Und gerade die Einzelheiten sind es, die wichtig sind. Ich muss ins Nest, ich muss unseren Tlen-na'Tian, unser Gedächtnis, befragen.«
Ylenia stand auf und ging wieder zum Fenster hinüber. »Du weichst mir immer noch aus, Tallis«, sagte sie müde. »Wie kommt es, dass du das Herz des Wassers in deinem Besitz hattest, und niemand davon wusste? Ich bin die Oberste des Weißen Ordens, ich hätte es sofort erfahren müssen, Nestälteste! Und warum habt ihr, Elaina und du, Adina so etwas angetan? Sie zu verschleppen, sie als Waise groß werden zu lassen in einer Welt, die ihr noch fremder und feindlicher sein musste, als sie es dir und Elaina war? Sie dort schließlich alleine zu lassen? Tallis, wie konntest du das tun?«
Die alte Grennach legte die Hände vors Gesicht. »Es war notwendig, Nesttochter«, erwiderte sie schließlich dumpf. »Unser aller Schicksal hing davon ab. Bitte, Tochter, glaube mir. Deine Mutter wusste, was sie tat.«
»Aber du willst es mir immer noch nicht mitteilen«, sagte Ylenia und wandte sich erbittert ab. »Du lässt mich weiter im Nebel herumtappen, Tallis, Vertraute meiner Mutter. Wollen wir hoffen, dass du richtig handelst, Nestälteste von Tel'krinem.«
»Ja«, flüsterte Tallis. »Das ist es, was ich hoffe.«
Ida hatte in Eddys Zimmer gewartet, bis Gudren gekommen und wieder gegangen war, und obwohl Eddy sich alle Mühe gegeben hatte, so stachlig, unhöflich und widerborstig zu sein, wie es ihr nur möglich war – und das war nicht eben wenig –, hatte Ida die Zähne zusammengebissen und gewartet, bis ihr Zwilling
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