Anidas Prophezeiung
Tallis, wenn du dich entschließen solltest, doch noch etwas dazu zu sagen ...« Tallis schüttelte liebenswürdig und unnachgiebig den Kopf.
»So fand ich es in einer alten Schriftrolle: Die Prophezeiung selbst muss so alt sein wie die Ewigkeitsberge«, begann Ylenia. »Hört gut zu: ›Sucht die Herzen, die Dunkelheit und Licht regieren. Zwei, die fort sind. Zwei, die bleiben. Eins im Eis und eins im Feuer, eins im Nest und eins im fernen Meer. Eins verhüllt und eins verborgen. Schwestern im Spiegel, Schloss und Schlüssel, finden, was verborgen war, öffnen, was verschlossen war. Zwei, die eins sind, fremd und vereint, getrennt und verbunden. Fügt zusammen, was getrennt war, wenn unter dem Katzenstern die Nebel wandern und die schwarzen Mauern sich beleben. Herz zu Herz und Ring an Ring werden die Schatten weichen, und das Verborgene offenbart sich in Dunkel und Licht, Feuer und Wasser, Erde und Luft.‹ « Sie schwieg und starrte wieder Tallis an, die sich unbehaglich in ihrem Stuhl regte.
Ich hatte die Nase voll. Bis hierhin war das alles ja ganz amüsant gewesen, wenn auch verwirrend, aber jetzt wollte ich nur noch in mein Bett und die Decke über den Kopf ziehen. Mir brummte der Schädel, und mein Gehirn schwappte lose darin herum. Ich stand auf und musste mich an der Tischkante festhalten, um nicht umzukippen. Neben mir sprang meine Kopie auf und griff nach meinem Arm. Ich riss mich los und murmelte: »Nimm deine dreckigen Pfoten weg, du miese Fälschung.« Ida zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt, und wurde blass vor Zorn. Sie presste ihre Lippen zu einer schmalen weißen Linie zusammen und warf ihrer Tante einen wütenden Blick zu.
Ylenia erhob sich. »Bring sie auf ihr Zimmer, Ida. Es war zu viel für sie an ihrem ersten klaren Tag, das hätte ich bedenken sollen. Ich schicke Gudren vorbei.«
Ida nickte sehr knapp und nahm wieder meinen Ellbogen. Diesmal ließ sie sich nicht abwimmeln, sie packte fest zu und schob mich zur Tür. Hinter mir hörte ich Ylenia kalt und förmlich sagen: »Ich bitte als folgsame Tochter um das Gehör der verehrten Nestältesten.«
Tallis stieß einen erschreckten Laut aus, aber dann sagte sie: »Geh bitte hinaus, Mellis. Das hier ist eine Ältesten-Angelegenheit.«
Dann schob mich Ida zur Tür hinaus und zerrte mich nicht besonders sanft den Gang entlang zu meinem Zimmer. Anscheinend hatte ich mir hier im Land meiner Wahnvorstellungen nicht gerade Freunde gemacht, aber das war mir ziemlich egal. Was ich wollte, war, dass mir jemand endlich den Notausgang zeigte, aber das schien nicht sehr wahrscheinlich. Das Bett, in dem ich mich wenig später wieder fand, war da schon eine ganz erfreuliche Alternative.
Ylenia stand am Fenster und sah hinaus. Man hätte sie für eine Statue halten können, wären da nicht ihre schlanken Finger gewesen, die unablässig an einem zierlichen Silberring drehten. Tallis saß reglos in ihrem Stuhl und brütete vor sich hin.
»Bitte, alte Freundin«, sagte Ylenia nach einer langen Pause. »Muss ich dich offiziell und förmlich um deine Hilfe bitten? Willst du mich zwingen, eine Reise zum Großen Nest anzutreten und den Rat der Ältesten anzurufen?«
Tallis stieß einen jammernden Laut aus, dann begann sie stumm in sich hineinzulachen. Ylenia drehte sich fassungslos zu ihr um, als die unterdrückten Laute an ihr Ohr trafen. Die alte Grennach hatte sich behaglich in den Stuhl gekauert und ihren Schweif um die Füße geschlagen. Ihr ganzer, zierlicher Körper bebte vor Gelächter, und ihre schwarzen Augen blitzten wie dunkle Edelsteine.
Ylenia starrte sie erbost an. Dann zuckte es in ihrem Gesicht und sie wandte sich hastig ab. »Ich denke, wir könnten beide etwas zu trinken vertragen.« Sie goss eine großzügig bemessene Menge einer goldenen Flüssigkeit aus einer Karaffe in zwei kostbar geschliffene Gläser, drückte Tallis ohne große Umstände eines davon in die Hand und ließ sich dann schwer und müde in ihren Lehnstuhl fallen. »Zum Wohl, alte Freundin«, sagte sie und nippte an ihrem Glas. Tallis ließ ihr Lachen langsam verklingen und tat ihr nach. Sie verzog anerkennend das Gesicht.
»Das ist allerdings ein feiner Nebelhorter Tropfen«, sagte sie sanft. »Nicht unbedingt etwas, das ich in diesem Haus erwartet hätte. Ylenia, du überraschst mich.«
Die Oberste Hexe saß entspannt da, drehte ihr Glas in der Hand und schmunzelte verhalten. »Dafür kannst du dich bei deiner Mellis bedanken. Sie und ihre Freundin
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