Anidas Prophezeiung
eingeschlafen war.
»Warum tut sie das? Sie hat pausenlos um sich gebissen, als hätte ich ihr etwas Böses angetan«, klagte sie verwirrt ihrer Tante ihr Leid. Ylenia blickte in das Gesicht der jungen Frau und sah die Verletzung in ihren rauchdunklen Augen. Sie legte Ida eine Hand in den Nacken und schüttelte sie sanft.
»Lass ihr ein wenig Zeit, Anida. Selbst wenn es in den letzten Tagen aussah, als sei sie bei Bewusstsein, war sie es doch nicht wirklich. Sie hatte noch keine Zeit, sich an uns – und vor allem an dich – zu gewöhnen. Und außerdem ist sie in einer für sie vollkommen fremden Welt aufgewacht, in der sie sich erst zurechtfinden muss. Du weißt, was Tallis über diese Stadt erzählt hat, in der Adina aufgewachsen ist. Was glaubst du, wie es dir ginge, wenn du eines Morgens dort aufwachen würdest?«
Ida schauderte. »Ich würde an meinem Verstand zweifeln.«
»So geht es ihr wohl jetzt. Keine Sorge, Ida, sie wird sich schon zurechtfinden. Sie ist stark.« Ylenia lächelte. Idas verkrampfte Miene lockerte sich ein wenig.
»Was denkst du?«, fragte sie neckend. »Ist sie genauso magieblind wie ich?«
Ylenia sah auf das schmale Gesicht der schlafenden Eddy nieder, auf dem immer noch einige rote Sterne funkelten. Dann legte sie behutsam das Herz des Wassers neben ihre Hand. Eddy murmelte etwas und griff im Schlaf danach. Ihre Finger schlossen sich um die Brosche. Die steile Falte, die zwischen ihren dunklen Brauen gestanden hatte, glättete sich.
»Ja«, sagte Ylenia. »Ja, Kind. Sie ist ebenso wenig eine Hexe wie du.« Sie wandte sich zu Ida und hielt ihr die verhüllten Herzen hin. Ida griff danach wie eine Ertrinkende nach der rettenden Planke und barg sie zwischen den Händen. Ylenia sah auf ihre bebenden Finger, die die Herzen umklammerten, und zog eine bedenkliche Miene.
»Es schmerzt wie ein abgeschlagenes Glied, wenn ich sie nicht bei mir habe«, erklärte Ida, die das Gesicht ihrer Tante richtig deutete. »Ich ertrage es kaum, wenn jemand anderes sie berührt. Es ist, als würde mir die Seele aus dem Leib gezerrt.«
Ylenia hielt ihr die Tür auf. »Dann lass nicht zu, dass jemand sie berührt. Am besten ist es ohnehin, du zeigst sie nicht her. Ich weiß immer noch nicht genau, was es mit der Prophezeiung auf sich hat, aber ich habe Angst, dass Gefahren auf dich und deine Schwester lauern. Ihr könnt euch nicht schützen.« Sie hob die Hand und lachte. »Ja, ich weiß, du bist sehr gut in der Lage, dich zu verteidigen; und Eddy scheint auch nicht gerade hilflos zu sein. Nein, Kind, das meinte ich nicht. Ihr könnt euch nicht gegen Angriffe aus dem geistigen Bereich wehren. Aber vielleicht hat eure vollständige Magieblindheit doch einen positiven Aspekt: Möglicherweise schützt sie euch gegen eine Beeinflussung durch Zauberei.«
Ida wanderte tief in Gedanken versunken durch den Garten und blieb neben einem knorrigen alten Bergahorn stehen. Sie legte ihre Hand auf die glatte Borke und sah zu den schneebedeckten Gipfeln auf, die weiß im Sonnenlicht erstrahlten. Als Schritte hinter ihr über den Weg knirschten, drehte sie sich nicht um. Jemand trat neben sie und blickte schweigend auf das vor ihnen aufragende Massiv der Ewigkeitsberge.
»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich dort oben gewesen sein soll«, bekannte Ida. Sie wandte den Blick ab und sah auf Mellis' glänzendes Haar nieder. »Ist Tallis wirklich deine Mutter?« Sie lehnte sich an den Baum.
Mellis nickte und zeigte einige blitzende Zähne. »Sie ist die Nestälteste, damit ist sie auch meine Mutter. Aber sie ist auch meine leibliche Mutter, wenn du das meinst, jedenfalls hat man mir das erzählt.«
Ida blinzelte verwirrt. »Wusstest du das denn nicht?«
»Doch, natürlich«, sagte Mellis ungeduldig. »Du weißt doch auch, wer deine Mutter war, oder? Ich weiß, dass Tallis meine Mutter ist, seit ich aus dem Beutel meines Vaters gekrochen bin. Kennen gelernt habe ich sie allerdings erst, als ich Tel'krian verlassen habe.« Sie grinste. »Nicht das Tel'krias, das du kennst. Ich bin im Großen Nest aufgewachsen, im dortigen Tel'krian.«
Ida hob die Hände und bat um Schonung. »Mellis, hör auf. Mir schwirrt der Kopf. Was hat dein ›Tel'krian‹ mit Tel'krias, dem Gildenhaus zu tun?« Und was meinst du um der Schöpfer willen mit ›Beutel deines Vaters‹?, setzte sie stumm hinzu. Mellis verdrehte die Augen. Sie zog sich geschmeidig am Stamm des Baumes hinauf und schwang sich auf den untersten Ast des Ahorns.
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