Anidas Prophezeiung
gespenstisch an den Mauern. Korlebek schien vollständig verlassen zu sein. Die Bewohner der Stadt mussten allesamt vor der heranrückenden Nebelwand geflohen sein. Türen schwangen trostlos in den Angeln, weggeworfener oder auf der Flucht verlorener Hausrat lag auf der Straße, und nirgends war mehr das Geräusch von Schritten oder der Klang einer menschlichen Stimme zu vernehmen.
Ida führte ihre Stute in den Stall des Wirtshauses und versorgte sie mit Wasser und Futter. Einen Moment lang überlegte sie, das Pferd gesattelt zu lassen, falls sie noch in der Nacht vor der Nebelgrenze fliehen musste, aber dann lachte sie, ärgerlich über ihre Verzagtheit, und begann, den Sattelgurt zu lösen. Wenn der Nebel wirklich in der Nacht das Wirtshaus schluckte, würde sie es kaum rechtzeitig bemerken. Außerdem wagte sie es, ausnahmsweise dem Wirt Vertrauen zu schenken: Wenn er sagte, dass sie diese Nacht noch sicher sein würden, dann sollte das wohl stimmen. Marten hatte sicherlich ebenso wenig Interesse daran, auf der anderen Seite der Grenze aufzuwachen, wie die ehemaligen Bewohner von Korlebek.
Der leere, dunkle Schankraum verstärkte das Gefühl der Verlassenheit, das sie seit ihrem Betreten des Städtchens bedrückte. Sie durchquerte den Raum mit seinen dunklen Schatten in den Ecken und stieß die Tür zur Küche auf. Im Herd glühte noch der Rest eines Feuers. Ida machte sich daran, es wieder anzufachen. Sie warf einige Scheite darauf und stocherte in der glosenden Asche, bis die ersten kleinen Flämmchen aufflackerten. Dann sah sie sich unschlüssig in der Küche um und entschied, erst einmal einen starken Tee aufzubrühen.
Als sie sich den ersten Becher einschenkte, schwang die Tür zum Hof auf, und der gemauerte Boden der Küche erbebte unter den schweren Tritten des Wirtes. Der Fußmarsch schien ihn etwas ernüchtert zu haben. Er band sich wortlos seine fleckige Schürze um und begann, mit einer schweren Pfanne zu hantieren. Während ein Klumpen Fett über dem Feuer zum Schmelzen kam, hackte er geschickt mit einem riesigen Messer Zwiebeln in Stücke und warf sie in das heiße Fett. Dann schälte er Kartoffeln und schnitt sie in Scheiben und nahm dann mit seinen dicken Fingern behutsam einige bräunlich gefleckte Eier aus einem Korb. Ida beobachtete seine konzentrierten, mit sparsamen Gesten ausgeführten Vorbereitungen. Das Kochen schien ihm wirklich Vergnügen zu machen, selbst wenn es sich um eine so einfache Mahlzeit wie Spiegeleier und Bratkartoffeln handelte.
»Mögt Ihr Pilze?«, fragte er, ohne sich zu ihr umzudrehen.
»Gerne«, sagte Ida. Er brummte zufrieden.
»Ich habe keinen Speck mehr«, bemerkte er bedauernd und zerkleinerte die Pilze.
»Macht nichts, mir schmeckt es ebenso gut ohne«, erwiderte Ida amüsiert. Marten bei der Arbeit zuzusehen, war wirklich unterhaltsam. Er war völlig versunken in sein Tun. Selbst den drohenden Verlust seines Gasthauses schien er für den Moment vergessen zu haben.
Erst, als sie beide vor ihren geleerten Tellern saßen, kehrte auch die Sorge wieder. Marten starrte auf den Becher, den er in der Hand hielt, und stülpte mit einem weinerlichen Ausdruck die Lippen vor. Er hatte während des Essens eifrig weitergetrunken. Ida hegte keine große Hoffnung, an diesem Abend noch etwas Sinnvolles aus ihm herausbekommen zu können, versuchte es aber dennoch. Es mochte ja sein, dass er sich betrunken weniger argwöhnisch und verlogen als in nüchternem Zustand zeigte.
»Simon ist also tot«, begann sie vorsichtig. Marten knurrte nur und hob den Becher zum Mund. »Seit Jahren schon, sagtet Ihr?«, fragte Ida.
»Ja«, erwiderte er kurz. »Seit acht Jahren.«
»Wie ist es passiert?«
»Er ist dem falschen Ende eines Schwertes zu nahe gekommen.«
»Wart Ihr dabei, als er starb?«
»Ja, verdammt!«, brüllte Marten und knallte seinen Becher auf den Tisch. Er stemmte sich schwankend in die Höhe und tappte hinüber zum Herd, wo noch immer ein beachtlicher Rest ihres Abendessens in der Pfanne wartete. Wortlos nahm er die große Pfanne hoch und schaufelte das Essen ohne Umstände direkt in seinen Mund. Ida sah ihm in stummer Faszination dabei zu. Dieser Mann war maßlos in jeder Beziehung.
»Wie erklärt Ihr Euch, dass mein Bruder ihn vor fünf oder sechs Jahren noch getroffen haben will?«, setzte sie geduldig ihre Befragung fort. Marten sah auf und schoss ihr einen zutiefst hasserfüllten Blick zu. Seine Kiefer beschäftigten sich damit, die Nahrung zu zermahlen, und er
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