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Animus

Animus

Titel: Animus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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hinsehen. Aber es war unvermeidbar. Da stand ein Stuhl. Auf dem Stuhl saß Ann. Sie war an den Stuhl gefesselt. Sie war tot. Ihre Augen waren geöffnet, der Mund war es auch. Ihr Kopf war nach hinten gesackt. Neben ihr auf dem Boden lagen eine Spritze und zwei ihrer Finger in einer Blutlache, die noch nicht eingetrocknet war. In ihrer rechten Schläfe befand sich ein Einschussloch. Der linke hintere Teil ihres Kopfes war weggerissen.
    Plötzlich ertönte ein markerschütternder Schrei aus dem Raum daneben. Dann trat wieder Stille ein. Ich rührte mich nicht. Ich hatte schreckliche Angst, entdeckt zu werden. Ich hielt die Luft an. Nach einer Weile hörte ich, wie im Nebenzimmer jemand zu singen begann. Erst ganz leise, dann immer lauter. Es war ein Kinderlied: ›Zehn kleine Negerlein …‹ Die Stimme gehörte Isabel. Sie klang gepresst, gurgelte ein wenig.
    »Lucy, Lucy! Hol Luft, atme, atme, verdammt noch mal!« Wie durch eine dicke, nasse Schicht Quark drang Katyas Stimme in mein Bewusstsein. Milchig weiß erschien Katyas Gesicht in meinen Traumschwaden und gewann langsam an Kontur. Katya schüttelte an meinen Schultern, sie schlug mich. Rechts und links. Warum schlug Katya mich? Warum goss Erykah mir Wasser ins Gesicht? Dann, als wäre ich von einem Pferd getreten worden, bäumte sich mein Körper auf, riss Luft in meine Lungen. Ich keuchte, hustete, spuckte, atmete.
    »Mein Gott, Lucy! Ich dachte schon, du kratzt ab! Was war los mit dir?« Katya ließ erschöpft von mir ab.
    »Wasser«, krächzte ich.
    »Trinken oder schütten?«, versuchte Katya halbherzig einen Scherz. Sie ging zum Waschbecken in der Toilette und brachte mir den frisch gefüllten Zahnputzbecher. Erykah setzte sich ebenso wie Katya neben mich aufs Bett. Langsam wurde es eng in der Schlafkoje. Evelyn stand im Hintergrund und beobachtete uns zitternd. Kaum hatte ich das Wasser hinuntergekippt, sagte ich: »Wir müssen nach Roswell. Sofort. Sie bringen Ann und Isabel um.«
    Erykahs Augen weiteten sich vor Entsetzen bei dem Gedanken, ins Lager zu fahren.
    Ich ignorierte sie und wandte mich an Katya: »Habe ich geschlafen, oder war ich wach?«
    »Deine Augen waren geöffnet. Du hast gestöhnt und unverständliches Zeug gebrabbelt. Dann hast du die Luft angehalten. Einfach aufgehört zu atmen. Ich habe Angst gekriegt. Du bist schon blau angelaufen.«
    Ich erzählte stockend, was ich gesehen hatte. Wir beschlossen, Pete und Marc zu informieren. Erykah ging an die vordere Wand des Wohnmobils und öffnete das Zwischenfenster. Zwei Minuten später stoppte der Motor. Die beiden stiegen hinten zu.
    »Was ist los?«, fragte Marc.
    Ich erzählte zum zweiten Mal von meinem Erlebnis. Marc versuchte, mich zu beruhigen, indem er behauptete, ich hätte einen Albtraum gehabt. Doch Katya machte ihm unmissverständlich klar, dass die Unterscheidung von Traum und Vision lediglich eine akademische sei. Zumindest für eine Ratte. Es stand unwiderruflich fest, dass im Lager etwas passiert war oder passieren würde. Und zwar genau das, was ich gesehen hatte.
    »Trotzdem können wir nicht nach Roswell fahren.« Pete schüttelte entschieden den Kopf. »Das wäre Selbstmord.«
    Er legte seine Hand auf meinen Arm, doch ich schlug ihn weg. »Du hast es nicht gesehen! Du verstehst gar nichts. Wir können sie doch nicht hängen lassen, es ist unsere Schuld!«
    Mit sanfter Stimmer redete Pete auf mich ein: »Doch, Lucy, ich verstehe. Aber bis wir dort wären … Vielleicht ist es ja jetzt schon zu spät.«
    Ich begann mich hin- und herzuwiegen, fing an zu summen. Irgendein Kinderlied. Pete wollte weiter argumentieren, doch Katya gab ihm ein Zeichen zu schweigen. Fünf Minuten saßen sie alle schweigend um mich herum. Dann hörte ich mit dem Summen auf, erhob mich, kletterte zwischen meinen Freunden hindurch über die Bettkante und begann, meine Reisetasche mit der Zahnbürste und einem auf dem Boden liegenden T-Shirt zu packen. Ich stand völlig neben mir.
    »Wir müssen weiter«, sagte ich beiläufig.
    »Aber wir können nicht nach –«, begann Pete wieder.
    Ich drehte mich um und legte meinen Finger auf seine Lippen.
    »Du hast recht. Ich weiß es. Es ist zu spät. Es ist schon passiert. Sie sind tot.«
    Dann sank ich kraftlos auf dem Bett nieder. Katya nahm mir die Reisetasche aus den Händen und stellte sie wieder zurück in den Schrank. Sie gab Pete und Marc ein Zeichen weiterzufahren. Die beiden stiegen ins Fahrerhaus. Marc startete den Motor und schaltete das

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