Animus
Washington gekommen. Als auch Pete und Marc eingeschlafen waren, stellte Katya das Radio ab. Eine andere, weichere Geräuschkulisse trat in den Vordergrund: das Blubbern der Kaffeemaschine, das Atmen der Schlafenden, ein gelegentliches Stöhnen und das Rascheln einer Bettdecke. Das Rauschen des Waldes, der Schrei einer Eule – all das unterstrich nur noch die Stille, machte sie fast hörbar.
»Wir sollten sie länger schlafen lassen als zwei Stunden, findest du nicht?«, fragte Katya leise.
»Vielleicht drei. Wir müssen morgen früh gegen zehn Uhr in Pecan Island sein. Es ist nicht mehr weit.«
Katya malte mit ihrem rechten Zeigefinger unsichtbare Kringel auf die Tischplatte. Dann sagte sie: »Erykah hat dir etwas über mich erzählt …«
Ich schaute auf. »Möchtest du darüber reden?«
»Ich will nur wissen, ob du … Nein. Es sei denn, du willst mich etwas fragen.«
»Du brauchst mir nichts zu erklären.«
Katya wirkte erleichtert. Sie stand auf, schloss das Fenster, durch das empfindlich kalte Luft hereinströmte, und nahm den frischen Kaffee aus der Maschine. Sie goss unsere Becher voll.
»Noch eine Tasse, und ich werde nie wieder schlafen können.« Ich versuchte ein Lächeln, aber es gelang mir nicht. Wir lauschten gemeinsam in die Stille hinein. Bis ich es nicht mehr aushielt. »Katya, irgendetwas stimmt nicht. Spürst du das auch?«
Katya schüttelte den Kopf. »Was meinst du?«
»Pete hat uns erzählt, dass Snyder, March und er eine Sache am Laufen hatten, die den Präsidenten gestürzt hätte.«
Katya nickte.
Ich fuhr fort: »Wir hatten dennoch ganz deutlich Katastrophenalarm. Gesetzt den Fall, wir hätten nicht interveniert, wäre die Intrige des Secret Service zum Zuge gekommen. Dann hätte es kein neues Antiterrorprogramm gegeben. Alle Maßnahmen wären hinfällig gewesen. Welchen Sinn machen unsere Visionen unter dieser Voraussetzung?«
»Keine. Da wir beide aber genau wissen, dass unser Alarm keine Fehleinschätzung war, muss die Voraussetzung falsch sein. Wir können daraus nur schließen, dass Pete und seine Leute mit ihrer Methode gescheitert wären und der Präsident oder auch ein Nachfolger die Maßnahmen durchgesetzt hätte.«
»Das ist eine mögliche Erklärung«, pflichtete ich bei. »Aber was hast du für ein Gefühl? Was spürst du? Der Präsident ist tot. Aber ich sehe immer noch die gleichen Bilder. Nicht klar. Sie sind überlagert. Alles überlagert sich im Moment. Ich dringe nicht durch.«
Katya überlegte nur kurz. »Es ist logisch, dass wir unter diesen Umständen nicht richtig differenzieren. Das ganze Chaos. Wir haben kaum geschlafen. Wir sind in hohem Maße instabil. Die Ereignisse im Lager, überhaupt alles … Wenn wir erst mal raus sind, glätten sich die Wogen. Dann können wir auch wieder klar sehen. Und denken. Mach dir nicht so viele Gedanken. Mir jedenfalls geht es gut. Ich weiß, dass bald alles in Ordnung sein wird. Ich bin mir ganz sicher. Ich war mir noch nie so sicher.« Sie wich meinem Blick aus, wandte sich ab.
Gegen zwei Uhr wurde Erykah wach, und Katya legte sich hin. Ich konnte nicht schlafen. Ich ging nach draußen, vertrat mir die Beine, atmete die würzige, feuchte Luft des Waldes ein. Es war eine klare Nacht, der Himmel von Sternen übersät. Ich dachte an Ann und Isabel, an die Bilder, das Grauen, das ich gesehen hatte. Ich war traurig, aber nicht mehr verzweifelt. Verzweiflung erfordert Kraft. Ich wollte nicht meinen letzten Rest an Energie dazu verwenden, mich gegen etwas zu stemmen, was nicht mehr abzuwenden war. Verwundert stellte ich fest, dass mich eine ähnliche Ruhe überkam, wie ich sie am Morgen am Bach verspürt hatte. Die Sterne waren unglaublich schön in ihrer Teilnahmslosigkeit.
Gegen halb vier Uhr fuhren wir weiter. Pete übernahm das Steuer. Er fühlte sich nach den paar Stunden Schlaf und einer Dusche ausreichend fit. Auch die anderen waren wach, hatten sich frisch gemacht. In der Nähe von Baton Rouge kaufte Marc frische Sandwichs, Bagel und Salate für ein Frühstück ein. Wir erlaubten uns eine halbe Stunde Pause. Wir lagen gut in der Zeit. Marc ging ans Steuer.
Es war etwa sieben Uhr morgens, als sich auf einer Landstraße hinter New Iberia das Unheil über uns zusammenbraute. Ich sah ihn vor meinem inneren Auge, ganz plötzlich tauchte er auf, der Rotor, der die kalte Luft durchwirbelte. Ich stolperte zwischen Katya, Erykah und Ev nach vorne, riss die Trennscheibe zu Pete und Marc auf. »Wir werden verfolgt! Runter
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