Anita Blake 04 - Giergige Schatten
Atmung und Puls waren stabil. Sein Kopf auf der Seite, sodass die lange Halswunde zu sehen war. Sie verheilte. Ich konnte nicht dabei zusehen, aber sie sah bei jedem Hinsehen besser aus. Als wollte man einer Blume beim Aufblühen zusehen.
Man sieht die Entwicklung, aber nie, wie es passiert.
Louie würde es wieder gut gehen. Und Richard? Ich hatte »ja« gesagt, weil es mir in der Hitze des Augenblicks emst gewesen war. Ich konnte mir vorstellen, mein Leben mit ihm zu verbringen. Bevor Bert mich entdeckt und mir gezeigt hatte, wie ich mit meinem Talent Geld verdienen kann, hatte ich ein Privatleben gehabt. Ich war wandern und zelten gegangen. Ich hatte Biologie studiert und geglaubt, ich werde den Magister und den Doktor machen und für den Rest meines Lebens an übernatürlichen Lebewesen forschen. Wie eine zweite. Jane Goodall. Richard hatte mich an all das erinnert, was ich ursprünglich von meinem Leben erwartet hatte. Ich hatte nicht vorgehabt, später ständig bis zu den Hüften durch Blut und Leichen zu waten. Wirklich nicht.
Wenn ich Jean-Claude nachgäbe, hieße das anzuerkennen, dass mir nichts als Tod und Gewalt blieb. Er war sexy und attraktiv, aber trotzdem tot. Mit Richard, so hatte ich geglaubt, würde ich etwas Lebendiges bekommen. Etwas Besseres. Nach der vergangenen Nacht war ich mir dessen gar nicht mehr sicher.
War es zu viel verlangt, jemanden zu wollen, der ein Mensch war? Wirklich, ich kannte viele Frauen in meinem Alter, die überhaupt keine Verabredung zuwege brachten. Ich war auch so eine gewesen, bis ich Richard begegnete. Na gut, Jean-Claude wäre mit mir ausgegangen, aber ihm ging ich aus dem Weg. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich mit Jean-Claude zu treffen, als wäre er ein ganz gewöhnlicher Kerl. Ich konnte mir vorstellen, mit ihm Sex zu haben, aber nicht, mit ihm auszugehen. Die Vorstellung, er würde mich um acht Uhr abholen, mich wieder zu Hause absetzen und wäre mit einem Gutenachtkuss zufrieden, erschien mir lächerlich.
Ich kniete auf dem Sitz und betrachtete Louie. Ich hatte Angst, mich umzudrehen und es mir bequem zu machen, Angst, einzuschlafen und nicht aufzuwachen. Nicht, dass ich mich wirklich fürchtete, aber ich war besorgt. Eine Fahrt ins Krankenhaus war vielleicht doch keine schlechte Idee, aber zuerst würde ich Jean-Claude das mit Richard sagen müssen. Und ihn davon abhalten müssen, mich umzubringen.
Ich legte den Kopf auf die Arme, und in der Stirn setzte ein tiefer, stechender Schmerz ein. Gut. Nach diesen Prügeln sollte mir der Kopf wirklich wehtun. Dass das anfangs nicht so war, hatte mir Sorgen gemacht. Mit anständigen Kopfschmerzen konnte ich leben.
Wie sollte ich Richards Leben retten? Ich lächelte. Richard war ein Leitwolf. Wieso dachte ich, er könne nicht selbst auf sich aufpassen? Ich hatte gesehen, zu was Jean-Claude fähig war. Ich hatte ihn gesehen, als er überhaupt nicht menschlich war. Vielleicht würde ich für Richard anders empfinden, nachdem ich seine Verwandlung mit angesehen hatte. Vielleicht nicht mehr so beschützerisch. Und vielleicht schneite es in der Hölle.
Ich liebte Richard. Ich tat es wirklich. Das Ja war mir ernst gewesen. Bis gestern Nacht. Bis ich gespürt hatte, wie mir seine Kräfte über die Haut krochen. In einem hatte Jean-Claude Recht gehabt. Richard war kein Mensch. Das Snuff-Movie hatte ihn erregt. Waren Jean-Claudes sexuelle Vorstellungen befremdlicher als das? Ich hatte mir nie gestattet, das herauszufinden.
Es klopfte am Fenster. Ich erschrak und fuhr herum. Schwarze Wimpel flatterten mir vor den Augen. Als wieder sehen konnte, war Richards Gesicht an der Scheibe.
Ich entriegelte die Türen, und er öffnete eine. Er streckte die Hand nach mir aus und hielt inne. Die Unsicherheit in seinem Gesicht war schmerzlich anzusehen. Er bezweifelte, dass ich mich anfassen ließe. Ich wandte den Blick ab. Ich liebte ihn, aber Liebe war nicht genug. Sämtliche Märchen, Liebesromane, Seifenopern, alle waren gelogen. Liebe überwindet nicht alles.
Er hütete sich, mich zu berühren. Seine Stimme blieb neutral. »Anita, geht es dir gut? Du siehst schrecklich aus.« »Schön, dann sehe ich ja so aus, wie ich mich fühle.«
Er betastete meine Wange, äußerst sacht, eine geisterhafte Berührung, bei der ich erschauerte. Er fuhr den Rand des Kratzers entlang. Es tat weh, und ich zuckte zurück. Ein Blutfleck zierte seine Fingerspitze und glänzte unter der Innenbeleuchtung. Ich sah, wie er darauf starrte. Fast hätte
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