Anita Blake 10 - Ruf des Bluts
Blick in sein Gesicht, und es verhielt sich genau umgekehrt. Er wurde langsam sauer. Das ganze Unternehmen würde ziemlich schnell den Bach runtergehen, wenn ich hier den gelassenen Part spielen sollte.
»Sind Sie immer so widerlich, oder bekomme ich eine Sonderbehandlung?«, fragte ich.
Er lachte, aber es war nur ein gewöhnliches, menschliches Lachen. Er beherrschte diese Stimmentricks nicht, die Jean-Claude und Asher draufhatten. Natürlich verfügte Colin über andere Talente. Eines hatte ich auf Nathaniels Brust gesehen.
Asher stand auf. Er hatte den Abend in einem eisblauen Seidenhemd begonnen, das zwei Töne dunkler war als seine Augen. Das Jackett war an Ärmeln und Aufschlägen dunkelblau bestickt. Es ließ sich mit einer Schlaufe und einem großen stoffbezogenen Knopf schließen. Dazu trug er eine passende Hose. Ich hatte den Anzug zuerst ohne Hemd probiert. Seine Brust war darin sehr aufgefallen. Neben dem hellen Blau hatten die Narben umso rauer gewirkt. Er hatte sich lange im Zimmerspiegel betrachtet und schließlich ein weißes Hemd darunter angezogen.
Jetzt hing das Hemd in Fetzen. Es sah aus wie von einer gigantischen Klaue zerrissen. Seine Brust war deutlich zu sehen. Aber da war kein Blut. Ich kannte nur drei Vampire, die jemanden von ferne verletzen konnten. Einer war Mitglied des Rates gewesen. Aber keiner von ihnen konnte so fein abgestuft zuschlagen, dass er die Kleidung auf der Haut zerriss, ohne Blut zu vergießen. Die Tätlichkeiten hatten also bereits begonnen. Bislang war Colin Sieger.
Ich sah zu Shang-Da und Jamil, die hinter der Bank standen. Sie waren scheinbar unbehelligt geblieben.
»Ihr seid mir zwei Leibwächter«, sagte ich. »Wir sind nicht hier, um Vampire zu schützen«, erwiderte Shang-Da. Ich sah Jamil an. Er zuckte die Achseln.
Großartig, einfach großartig. Zane wahrte noch mehr Abstand als die Wölfe. Er war auch nicht in Mitleidenschaft gezogen, dafür aber einsam wie ein Antialkoholiker bei der Weinprobe.
»Hätte ich ihn daran hindern sollen?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Zane. Du nicht.« Ich blickte Richard von der Seite an und fragte mich, warum er alle nur rumstehen ließ. Asher konnte ich verstehen. Um Hilfe bitten war ein Zeichen von Schwäche.
»Zieh die Jacke aus, sonst tue ich es«, sagte Colin.
»Colin, du hast dich klar genug ausgedrückt«, ließ sich die Frau vernehmen. Sie hatte eine erstaunlich tiefe Stimme, einen vollen, rauchigen Alt.
Colin tätschelte ihre Hand und lächelte, aber die folgenden Worte waren nicht freundlich. »Ich werde dir sagen, wann ich mich klar genug ausgedrückt habe, Nikki.« Er rückte von ihr ab und beachtete sie nicht weiter, und diese Nichtbeachtung kränkte sie sichtlich.
Einen Moment lang flackerte Wut in ihren dunklen Augen, und ich spürte ihre Macht. Ihre, nicht seine. Sie war eine Hexe oder eine Hellseherin oder etwas in der Art. Und genauso viel Mensch wie ich: nämlich kaum.
Die Wut verschwand hinter diesem stoischen Gesicht, aber ich wusste, was ich gesehen hatte. Sie liebte ihn nicht, und er nicht sie. Doch sie war sein menschlicher Diener, für alle Ewigkeit an ihn gebunden, auf Gedeih und Verderb.
»Sie wollen sehen, was unter der Jacke ist«, sagte ich. »Dann kommen Sie her, und helfen sie mir aus dem Ärmel. Das wäre gentlemanlike.« »Anita«, warnte Richard. Ich klopfte ihm beruhigend den Arm. »Schon gut, Richard, alles in Ordnung.«
Sein Blick sagte alles. Er traute mir nicht zu, dass ich mich benehmen würde. Komisch, dass jeder von uns dem anderen in einer Hinsicht misstraute.
Ich blickte zu Asher hinüber. Wir waren durch kein Zeichen miteinander verbunden. Wir konnten nicht in unsere Gedanken eindringen. Aber das brauchten wir nicht. Uns stand eine Abreibung bevor, weil die Werwölfe uns nicht helfen wollten.
Ich sah zu den acht hiesigen hinüber. Verne saß auf einer Bank, die anderen gelassen um ihn herum. Zwei waren in Wolfsgestalt, allerdings größer als normale Wölfe. Verne trug noch T-Shirt und Jeans. Keiner hatte sich schick gemacht. Selbst die Vampire hatten schlichte Anzüge an.
Ich hatte noch nie so viele Vampire in so gewöhnlicher Kleidung gesehen. Die meisten hatten einen ausgeprägten Sinn für Stil oder zumindest einen Hang zum Theatralischen. Sie legten immer einen guten Auftritt hin. Aber natürlich stahl ihnen dieser knochenbehängte Baum sowieso die ganze Schau. Und
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