Anita Blake 10 - Ruf des Bluts
hatte.
Ich griff zur Rückenscheide, aber mit der linken Hand, weil die rechte taub war. Linkshändig war ich langsamer, und Nikki war unglaublich schnell. Es war geradezu unmenschlich. Sie sprang auf mich zu, der Ast fuhr sausend herab. Ich gab das Messer auf und konzentrierte mich darauf, nicht getroffen zu werden. Ihre Angriffe waren so schnell, so wild, dass ich nicht einmal die Zeit hatte, um vom Boden hochzukommen. Ich konnte mich nur hin und her rollen und entkam jedem Schlag äußerst knapp.
Das gesplitterte Ende des Astes stach neben meinem Gesicht in die Erde. Nikki hatte Mühe, ihn wieder herauszuziehen, und ich trat ihr gegen ein Knie. Das brachte sie ins Schwanken, aber das Gelenk war nicht ausgerenkt, sonst hätte sie geschrien. Allerdings trennte es sie von dem Ast. Ich rollte weg und versuchte hochzukommen. Sie packte mich, stemmte mich wie ein Gewicht über den Kopf, dann sauste ich durch die Luft. Unter der Eiche schlug ich auf dem Boden auf. Als ich auf denknackenden Knochen landete, fuhr mir ein Machtstoß in den Körper, der mir sämtlichen Atem austrieb. Halb benommen lag ich da. Das war Todesmagie, und obwohl sie anders war als meine, erkannte sie mich und meine Kräfte an. Ich wusste, sowie ich die Knochen unter mir spürte, dass ich den Machtkreis beschwören konnte. Aber was würde passieren, wenn die Schutzgeister zum Leben erwachten? Dieses Rudel verehrte Odin. Zählte das Lupanar als heiliger Ort, wenn ich den Machtkreis erstehen ließ? Würde ich plötzlich auf heiligem Boden stehen? Das barg gewisse Möglichkeiten, sofern ich Asher und Damian warnen konnte.
Auf die Knie zu kommen war schmerzhaft. Außerdem sah ich, dass wir den Kampf verloren. Wo ich hinsah, waren unsere Leute unter einem Haufen Vampire begraben. Asher und Damian standen noch, aber sie bluteten, und Colin und Barnaby führten einen harten Angriff. Von Richard war nicht mehr als ein Arm zu sehen, der lange Krallen bekommen hatte. Verne stand bei einem seiner Werwölfe, einer Frau in Hosen und langem T-Shirt, die kleiner war als ich und schulterlange dunkle Haare hatte. Sie war die Einzige von seinen Leuten, die noch aufrecht stand. Alle anderen waren tot oder lagen sterbend am Boden.
Meine rechte Hand ließ sich wieder bewegen, also war der Arm nur betäubt, nicht ausgerenkt. Zum Glück. Ich zog ein Messer aus der Armscheide. Die Klinge war nicht für Rituale geweiht, aber sie würde genügen müssen.
Ich wollte Asher und Damian zuflüstern, sie sollten schleunigst abhauen, aber sie waren zu weit weg, und ich wusste nicht, wie ich den Gedanken auf sie übertragen sollte. Ich tat das einzig Mögliche: Ich schrie. »Asher, Damian!«
Sie drehten sich erschrocken zu mir um. Ich hob das Messer, damit sie es sehen konnten, und schrie: »Fliegt, verdammt, fliegt!«
Nikki hatte den Knochenkreis fast erreicht. Ich schrie noch einmal: »Fliegt!« Asher packte Damian am Handgelenk, und ich musste mich wegdrehen, ohne zu verfolgen, wie sie sich in Sicherheit brachten. Mir blieben nur ein paar Augenblicke für den Versuch. Nikki hatte ähnliche Kräfte wie ich. Wenn sie begriff, was ich vorhatte, würde sie es vereiteln.
Ich drückte die Handflächen an den Baumstamm, und die Macht wehte durch mich hindurch. Es war eine Magie, die aus dem Tod erwachsen war, und das war meine Spezialität. Sowie ich den Baum berührte, wusste ich, hier hatten keine Menschenopfer stattgefunden, sondern dies war der Versammlungsort ihrer Munin. Die Geister ihrer Toten waren hier in den Knochen, in dem Baum, in der Erde. Sie füllten die Luft mit ihrem Geflüster, Gekicher, mit Lauten, die nur ich hören konnte.
Die Lukoi verzehren ihre Toten, wenigstens zu einem Teil, und das verschafft ihnen den Zugang zum Gedächtnis ihrer Ahnen. Sie nennen sie Munin, nach Odins Raben. Die Munin sind keine Gespenster, sondern der Geist der Toten, und ich war ein Totenbeschwörer. Die Munin mochten mich. Sie strichen um mich herum wie ein kühler, liebkosender Wind, wie unsichtbare Katzen. Ich konnte sie lenken wie ein Medium bei der Seance, aber stärker. Ich hatte das einmal mit Raina getan, die ein bösartiges Miststück gewesen war. Sie war zu mir gekommen mit der Wucht eines Rammbocks. Als ich jetzt im Kreis Hunderter, Tausender Munin stand, wusste ich, ich würde mich ihnen öffnen können. Aber damit würde ich eine Tür öffnen, eine Einladung aussprechen. Ich würde in der Vergangenheit schwelgen, fremde Leben
Weitere Kostenlose Bücher