Anita Blake 12 - Nacht der Schatten
machte mir schon genug aus. Mit zwei verliebten Männern an meiner Seite käme ich überhaupt nicht klar. Ja, ja, das entsprach genau den kleinbürgerlichen Wertvorstellungen des Mittleren Westens, aber das war nun mal meine Weltsicht. Das ließ sich nicht ändern, oder? Und wenn, wollte ich es überhaupt?
Ich wusste es nicht. Ich wusste es einfach nicht. Die Tatsache, dass ich bei dem Gedanken nicht schreiend wegrannte, störte mich, aber nicht so sehr, wie ich geglaubt hätte.
54
Jean-Claude gab Jason die Schlüssel zu den Schlössern an den Silberketten. Eine Stunde lang hatte er allen erklärt, was zu tun war. Jason sollte Gretchen als Vorspeise dienen. Ein Mensch kam dafür nicht in Frage, weil die erste Mahlzeit nach der Freilassung ziemlich traumatisch sein konnte. Jean-Claudes Wortwahl, nicht meine. Jason wurde also vorgeschickt und würde den ersten Schaden abkriegen. Dann wäre Jean-Claude mit Blutspenden an der Reihe. Der Meister musste seinen Vampir nähren und den Bluteid erneuern, der ihn an den Meister der Stadt, seine Blutlinie oder seinen Schöpfer und in Jean-Claudes Fall an alle drei band. Die dreifache Bindung war besser; je stärker die Bindung, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Heilung.
Deshalb machte ich mir um Damian größere Sorgen. Ich war nicht sein Schöpfer, ich gehörte nicht zu seiner Blutlinie und war nicht Meister der Stadt. Ich wusste eigentlich gar nicht, was ich für ihn war. »Du bist sein Meister, ma petite«, hatte Jean-Claude auf diese Frage geantwortet. »Was immer das für einen Totenbeschwörer bedeutet, du bist es. Wenn dein Blut keine Bindung bewirkt, wird Asher es versuchen. Wenn das auch nicht klappt, werden sie mich von Gretchen wegholen. Damian muss sich an einen von uns binden, sonst ist er verloren. «
»Was heißt verloren?«, fragte ich. »Er bleibt dem Wahnsinn verfallen.« »Mist« »Oui.«
Aber zuerst Gretchen, damit ich sehen konnte, wie es ging, und den Vorgang besser verstand.
Jason löste die Ketten. Sie fielen klirrend gegen den Sockel, ein harter Laut, bei dem ich zusammenzuckte. Gretchen hatte mich umbringen wollen, als sie lediglich vermutete, ich sei mit Jean-Claude zusammen. Es konnte sein, dass sie zu sich kam und gleich wieder scharf darauf war. Und ausgerechnet ich hatte mich bei Jean-Claude für sie eingesetzt. Mir wurde eng in der Brust, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht zur Pistole zu greifen. Es wäre eine blöde Ironie, wenn ich sie sofort erschießen müsste. Ich hörte förmlich Jean-Claudes trockene Bemerkung: »Und das ist eine Verbesserung, ma petite?« Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es nicht so weit kommen möge. Ich wollte sie nicht töten müssen, ich wollte sie retten. Dass Ich Letzteres wollte, hieß nicht, dass ich Ersteres nicht tun würde, aber ich würde mir Mühe geben, es zu vermeiden.
Jason nahm langsam den Deckel ab. Nicht weil er schwer war, sondern weil er wahrscheinlich auch Angst hatte. Bei der Vorstellung, Gretchen die erste Mahlzeit zu spenden, hatte er gelacht. So klang männliche Vorfreude, wenn Sex und Sport, Autos, Technik oder Gefahr im Spiel sind. Es mag Männer geben, die bei dem Gedanken an Gartenarbeit oder Gedichte dieses schnurrende, erregte Lachen von sich geben, aber mir ist so einer noch nicht begegnet. Wäre aber mal eine interessante Abwechslung.
Der Deckel blieb halb aufgeklappt stehen, wie das bei Särgen so ist. Nichts bewegte sich. Ich sah nur Jason in seinen ab geschnittenen Jeans dastehen, den nackten Rücken dem Raum zugekehrt. Gretchen sprang nicht heraus, um jemanden zu fressen, und ich atmete erleichtert aus.
Jason stand, die Hände am Deckel, wie erstarrt da. Schließlich drehte er sich zu uns um und hatte einen Gesichtsausdruck, den ich noch nie an ihm gesehen hatte: Entsetzen und Mitleid. Seine Augen waren schreckgeweitet und glänzten von Tränen. Jason und Gretchen hatten sich nicht nahegestanden. Er konnte nicht persönlich betroffen sein. Was war in dem Sarg, was eine solche Reaktion hervorrief?
Ohne es zu merken, ging ich auf ihn zu. »Ma petite, geh nicht näher heran.« Ich blickte ihn an. » Was ist mit ihr? Warum sieht Jason so ... erschüttert aus?« Jason gab die Antwort. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Jetzt wollte ich es wissen, unbedingt. Ich ging weiter. Jean-Claude trat mir in den Weg. »Bitte ma petite, tu das nicht.«
»Ich soll mir das Verfahren doch aneignen, oder?
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