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Anklage

Anklage

Titel: Anklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Schollmeyer
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trafen sie tief. »Geldgierige Frau treibt Freund ins Verderben«, war noch die harmloseste. Auch das Gericht schien Julia nicht zu glauben, denn Julias Unsicherheit und Naivität wurden als Schauspielerei, ihre Aussagen als Schutzbehauptungen ausgelegt. Julia drohte eine hohe Gefängnisstrafe. Sie war verzweifelt. Im Prozess wurde Zeuge um Zeuge
vernommen. Jeder erzählte seine Geschichte, und Julias Position wurde nicht besser. Ali lächelte seinen Verteidiger siegessicher an, ihre Taktik schien aufzugehen. Wenn Ali das Opfer seiner Liebe war, dann fiele seine Strafe entsprechend milder aus, während Julias Strafe höher ausfallen würde.
    Als letzter Zeuge sagte der Leiter der Ermittlungen aus. Er berichtete, wie er der Bande auf die Schliche gekommen war und wie zäh die Ermittlungen gelaufen waren. Julia erwähnte er mit keiner Silbe. Das Gericht fragte ihn nach ihr.
    »Von ihr habe ich nur mitbekommen, dass sie die neun Päckchen angenommen hat. Persönlich denke ich, dass sie die Wahrheit sagt, auch wenn es sich nicht beweisen lässt«, antwortete der Beamte.
    Dieser Satz löste einen Perspektivenwechsel aus.
    »Das habe ich doch die ganze Zeit schon gesagt«, intervenierte der Anwalt. »Meine Mandantin wurde da einfach nur reingezogen.« Er war ein ruhiger Vertreter seiner Zunft, dem es nicht lag, laut aufzutreten. Alle Fälle, die er übernahm, arbeitete er ruhig und sachlich ab; ihm ging es in erster Linie darum, seine Mandanten gut zu vertreten, und nicht darum, möglichst viel Anerkennung einzuheimsen oder gar viel Honorar herauszuholen.
    Das Gericht begann, sich die Ermittlungsergebnisse noch einmal genau anzusehen. Offensichtlich war es bisher keinem Richter aufgefallen, dass Julia Ali erst lange Zeit nach den ersten Verbrechen kennengelernt hatte. Das Gericht prüfte die Aussagen von Julia nochmals im Detail und bewertete sie auch aussagepsychologisch.
    Schließlich zog sich das Gericht zur Urteilsbegründung zurück. Julia saß blass und versteinert vor dem Saal und wartete auf die Rückkehr der Richter. Für sie ging es um alles: Freiheit oder Gefängnis. Als es zur Urteilsverkündung kam, stand sie zitternd an ihrem Platz. Dort hörte sie, dass Ali sieben Jahre
ins Gefängnis musste. Nun hatte sie noch mehr Angst; sie befürchtete eine noch höhere Strafe für sich selbst, wenn ihr das Gericht nicht glauben würde. Dann kam ihr Urteil: Sie bekam eine kleine Geldstrafe, die als Denkzettel dienen sollte, sich zukünftig in nichts mehr hineinziehen zu lassen. Glücklich und erleichtert hörte sie sich die Urteilsbegründung an. Das Gericht führte aus, es hätte tatsächlich lange Zeit an die Schuld von Julia geglaubt. Doch am Ende waren sie sich nicht mehr sicher, weshalb sie eine kleine Strafe für die neun Päckchen verhängten. Julia weinte vor Glück. Damit endete die Geschichte der Sekretärin.

    »Sorry, aber ich verstehe nicht, warum der Kollege gehen musste. Er hat doch gute Arbeit geleistet. Er hat doch gewonnen!«, sagte ich.
    »Sicher, aber der Entlassungsgrund kommt noch«, antwortete sie. »Es war die Abrechnung«, fuhr sie leiser fort. »Ihr Vorgänger hat nicht genug Honorar aus dem Fall gezogen, weil er die Mandantin keine Honorarvereinbarung mit den hausinternen Gebühren unterschreiben ließ. Und so kam viel zu wenig Geld herein. Zumindest für den Geschmack der Partner.« »Er musste also gehen, weil er zu wenig verlangte, obwohl er der Gerechtigkeit zum Sieg verhalf?«
    Die Sekretärin nickte stumm.
    Nun wusste ich wenigstens, woran ich in dieser Kanzlei war. Mein Ehrgeiz dominierte zu dieser Zeit jedoch noch alle Bedenken und ich wollte unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, nicht im Sinne der Kanzlei und des Systems zu funktionieren. Vielleicht hätte ich anders gedacht, wenn ich gewusst hätte, welcher nächste große Fall mich erwartete.

16
    Der Anruf, der das neue Mandat ankündigte, war unspektakulär: Es sei eine Verhaftung vorgenommen worden und der Mandant hätte gern einen Verteidiger aus der Kanzlei. Außer einer Adresse, dem Namen des Mandanten und einer Rückrufnummer stand nichts auf der Notiz, die von einer Sekretärin gebracht wurde. Die Adresse aber ließ schon an Eindeutigkeit nichts mehr vermissen: die berüchtigtste Haftanstalt des Landes. Aber das berührte mich wenig, denn ich hatte ja schon einschlägige Erfahrung.

    Sofort machte ich mich auf den Weg zu meinem Mandanten, denn Eile war geboten. Aber nicht, weil dem Mandanten so schnell wie möglich

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