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Anklage

Anklage

Titel: Anklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Schollmeyer
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Bestrafung
einzelner in diesem Gewerbe straffällig Gewordener, hatte da natürlich keinen Platz. Schließlich hatte man einen Täter gefunden, auf den man mit dem Finger zeigen, dem man die Schuld anhängen konnte. Einen regelrechten Sündenbock. Das hatte auch eine Art Reinwaschungseffekt für den Rest der am Geschäft - sei es als Kunden oder auf eine andere Weise - Beteiligten.

    Als ich die Delikte gelesen hatte, wartete ich auf die Version, die der Verhaftete von der ganzen Sache hatte. Der begann sofort mit seiner Geschichte. Er erzählte freimütig die Ereignisse, die ihn in diese Zelle gebracht hatten, und zwar auf eine Art und Weise, wie wenn man jemandem etwas ganz genau verständlich machen will. Er wirkte, als sei er der festen Überzeugung, nichts Falsches oder gar Strafbares getan zu haben, als wäre er immer bestätigt worden, richtig gehandelt zu haben - oder als hätte er einen mächtigen Beschützer im Hintergrund, der ihm garantierte, dass man ihm schlussendlich nichts anhaben könnte. Was genau ihn zu seinen Ausführungen veranlasste, war mir schleierhaft. Ich wunderte mich nur, dass er so redselig war, keine Spur der sonst üblichen Anfangsdistanz zwischen Mandant und Anwalt zeigte und auch gar nicht versuchte, seine Taten zu entschuldigen oder zumindest in weniger schlechtem Licht erscheinen zu lassen. Sätze wie: »Also das, was in der Anklage steht, ist ja nur die Spitze des Eisbergs, mehr haben die nur nicht herausgefunden«, oder: »Ich habe das alles so geplant und auch bewusst gemacht. Blöd ist nur, dass man mich entdeckt hat«, erwartet wahrscheinlich kein Anwalt der Welt, wenn er seinem Mandanten gegenübersitzt; vielmehr spielen die Mandanten die eigene Beteiligung am Delikt und auch den Umfang der Tat deutlich herunter. Häufig hört man in solchen Gesprächen auch von Missverständnissen und anderen unglücklichen Verwicklungen, die den Beschuldigten
in diese üble Situation gebracht hatten. Die eigene Schuld geben die wenigsten offen zu. In manchen Fällen sind auch so gute Schauspieler unter den Beschuldigten, dass man als Anwalt wirklich für einen Moment denkt, man würde einen gänzlich Unschuldigen vertreten. Doch die völlig Unschuldigen sind eher selten.
    In der Regel haben Menschen, die vor Gericht stehen, etwas falsch gemacht und auch gegen Gesetze verstoßen. Sie sind also nicht unschuldig, aber meist auch nicht so schuldig, wie die Anklage den Anschein erweckt. Häufig wird nämlich die Schuld der Beteiligten von den anklagenden Staatsanwaltschaften und den ermittelnden Polizisten falsch bewertet beziehungsweise zu hoch angesetzt. Diese Überhöhung findet dann auch Eingang in die Anklageschrift, für die die Staatsanwaltschaft zuständig ist. Eigentlich soll die Staatsanwaltschaft Beweise für und gegen den Angeklagten würdigen, um anschließend eine angemessene Anklage einzureichen. Deshalb gilt die Staatsanwaltschaft in der Theorie des Gesetzes als »objektivste Behörde« des Landes, während die eigentlichen Ermittler, die Polizisten, im Gesetz »Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft« genannt werden. Theoretisch sollte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen leiten und die von den Polizisten in ihrem Auftrag zusammengetragenen Beweise objektiv werten. Am Ende dieses Vorgangs entstünde dann - wenn man die Vorgaben des Gesetzes streng zu Grunde legt - eine zutreffende, weil objektive Anklage oder eben eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Welche Rolle spielen eigentlich Anwälte bei so viel Fairness in dieser theoretischen Gesetzeswelt? Diese Frage habe ich mir im Studium sehr oft gestellt, konnte sie aber erst in der realen Ausübung des Berufs klären: Es sind die überzogenen Anklagen, die die Existenz von Anwälten rechtfertigen. Das Prinzip der objektivsten Behörde und ihrer Hilfsbeamten funktioniert in der Realität einfach nicht, weil diese Behörde von subjektiven
Menschen geführt und geprägt wird. Somit entsteht eine Art »Gerechtigkeitslücke«, und Anwälte sind dafür da, an der Seite ihrer Mandanten gegen überzogene Anklagen zu kämpfen. Man könnte das auch mit einem bildlichen Vergleich anschaulich machen: Der Tatvorwurf muss in eine dem Schema des Gesetzes entsprechende Form gepresst werden, bevor es zu einer Anklage kommen kann. Tatvorwurf und real begangene Tat stimmen aber in den seltensten Fällen exakt überein. Und dann verhält es sich eben wie mit einem Anzug von der Stange: Er passt nicht so gut wie ein Maßanzug. Gerechtigkeit aber

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