Anklage
zu meinem Mandanten. Die Zeiten sind heute nun einmal so, redete ich mir ein, die Sicherheit fordert ihren Preis und wird sogar über die Freiheitsrechte gestellt. Im Nachhinein finde ich das feige, denn Freiheitsrechte - und dazu gehört auch die Unschuldsvermutung - sind es wert, dass man für sie kämpft.
Stattdessen regiert die Angst und dient als Argument für die Beschneidung der Freiheit. Sich in der Masse derjenigen zu verstecken, die eine Verletzung der Freiheit und ihrer Rechte kommentar-, ja geräuschlos hinnehmen, war im Studium für mich eine Todsünde am Beruf des Anwalts. Schließlich dachte ich damals, es wäre die Aufgabe von Anwälten, gerade auf die Vermeidung solcher Verletzungen der Freiheitsrechte hinzuwirken.
Mir waren in diesem Augenblick jedoch andere Dinge wichtig: das Mandat, das Geld, das ich damit verdienen konnte, der Erfolg.
17
Als ich nach den Durchsuchungen endlich in einer der unzähligen Besuchszellen angekommen war, wartete ich ungeduldig auf meinen Mandanten. Die Besuchszelle war ein ungefähr fünf Quadratmeter großer - oder besser gesagt kleiner - Raum mit gelben Wänden, die unten von einem schwarzen Ölsockel begrenzt wurden. In der Mitte des Raums standen ein alter, ramponierter Tisch und zwei dazu passende Holzstühle. Auf der Tischplatte konnte man die Reste unzähliger Aufzeichnungen und Mitschriften aus ebenso vielen Verteidigergesprächen erkennen.
An den beiden Kopfseiten des Raums befand sich je eine graue Metalltür mit einem kleinen Sichtfester aus Panzerglas. Durch die eine Tür trat der Verteidiger in die Besprechungszelle. Sobald er in der Zelle war, musste er sie von innen verschließen und den Schlüssel sicher verstauen. Sein Mandant betrat durch die gegenüberliegende Tür die Besuchszelle. Diese Tür war nur von innen zu öffnen. Der Häftling musste also an die Tür klopfen und der Verteidiger öffnete sie dann von innen. Anwalt und inhaftierter Mandant saßen sich so in einem abgeschlossenen Raum gegenüber, der zwischen Haftbereich und Freiheit angesiedelt war. Es war eine Art Niemandsland. Nicht Haft, nicht Freiheit, irgendwo dazwischen.
Nach etwa zehn Minuten Wartezeit klopfte es an der Tür aus dem Haftbereich. Ich öffnete und herein kam ein Mann von etwa 1,90 Meter Größe mit rotem, schulterlangem Haar, das fein säuberlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Er war von massiger Gestalt und seine Haut hatte eine rosa Färbung. Seine blauen Augen waren klein und lagen eng beieinander. Seine Nase war kurz und leicht nach oben gebogen, sodass
sie eine echte Stupsnase hätte sein können. Aber das wäre sie nur in einem anderen Gesicht gewesen. Im Gesicht meines Mandanten mit seinen kleinen Augen und der rosa Haut war das keine Stupsnase, sondern erklärte den Spitznamen des Mandanten. Oder besser den Namen, der hinter seinem Rücken verwendet wurde, wenn man über ihn sprach: Er wurde »das Schwein« genannt.
Nachdem wir uns begrüßt hatten, setzten wir uns an den schäbigen Holztisch. Der Verhaftete hatte einen Zettel in der Hand, den er mir wortlos auf den Tisch legte: ein Durchschlag des Haftbefehls und des Festnahmeprotokolls. Daraus erschloss sich, warum er hier war. Ich überflog die Delikte und mir war sofort klar, das würde kein normaler Fall werden, sondern wieder eine schmutzige Angelegenheit, die breite Resonanz in den Boulevardblättern findet. Es ging um Menschenhandel in mehreren Fällen und um Zuhälterei. Solche Fälle sind die Lieblinge der Boulevardjournalisten. Nirgends kann man die Doppelmoral so schön ausschlachten wie in solchen Beispielen. Denn während tagtäglich fast eine Million Kunden die Dienste von Prostituierten in Anspruch nahmen und so erst die Nachfrage und damit die Rahmenbedingungen für Prostitution und Menschenhandel schufen, konnten die gleichen Personen mit Fingern auf die Menschenhändler zeigen und deren Machenschaften verurteilen. Die einen schaffen die Nachfrage und die anderen bedienen die Bedürfnisse. Doch wo hat es angefangen? Was war zuerst da, die Henne oder das Ei?
Die Geschichten aus dem Rotlichtmilieu bescheren natürlich Auflage und darauf kam es schließlich an. Außerdem erlaubt so ein Fall einen Blick hinter die Kulissen der Welt des angeblich Verruchten, genau das weckt großes Interesse der Leserschaft. Die Frage, wo die Ursache des Ganzen liegt und wie man die offensichtlich unvermeidliche Nachfrage nach Sexdiensten besser in den Griff bekommen konnte als durch
Weitere Kostenlose Bücher