Anklage
geholfen werden musste, denn der konnte ja nicht weglaufen. Das bemerkte jedenfalls mein Lehrmeister aus der alten Kanzlei immer auf sehr zynische Weise, wenn es um solche Mandate und die damit zusammenhängenden Besuche in der JVA ging, der Justizvollzugsanstalt, wie ein Gefängnis und seine offizielle Abkürzung im Behördendeutsch heißt.
Es war also nicht die Sorge um den Mandanten, die mich zur Eile trieb. Es war die Angst vor dem Verlust des Mandats an einen anderen Kollegen. Manche Kollegen wurden wie auf wundersame Weise unverzüglich informiert, wenn ein neuer Fall in die Haftanstalt eingeliefert wurde. Gerüchten zufolge kam diese Information von Bediensteten der Haftanstalt. Ob das stimmte und ob diese Information einen Preis hatte, das blieb mir verborgen. Jedenfalls waren besonders dann, wenn ein großes Mandat in der JVA ankam, sehr schnell immer die gleichen Anwälte vor Ort. Die »üblichen Verdächtigen« sozusagen, um diesen Begriff einmal auf die anzuwenden, die offiziell
auf der Seite des Gesetzes stehen. Es gab aber auch noch einen anderen Begriff, den manche Kollegen verwendeten: »Gitterschleicher« - Anwälte, die sich ständig in der Nähe der JVA aufhalten, um ja rechtzeitig bei der Mandatsjagd eingreifen zu können.
Als ich die Haftanstalt betrat, stand ich in einer bahnhofsähnlichen Eingangshalle. In dieser großen Wartehalle befanden sich neben zahlreichen Anwälten auch Angehörige der Inhaftierten. Der riesige Raum brodelte regelrecht vor Leben und in dem Gewirr aus Stimmen waren die unterschiedlichsten Dialekte und Sprachen zu hören.
Die Anmeldestelle sah aus wie ein Fahrkartenschalter, doch die Unterschiede wurden schnell deutlich. Würden Bahnmitarbeiter ihre Kunden derart rüde ansprechen, wären die Züge vermutlich leer oder alle Welt würde nur noch über das Internet buchen. Hier musste man sein Besuchsinteresse legitimieren. In der Regel machte man das mit einem sogenannten Besuchsschein. Solche Besuchsscheine musste man bei der zuständigen Staatsanwaltschaft beantragen, die über die Besuchserlaubnis entschied. So sollte sichergestellt werden, dass man einen Überblick über die Besuche und damit die Aktivitäten des Untersuchungshäftlings hatte. Nur wenn man eine Verteidigungsvollmacht des Inhaftierten besaß, konnte man sich als Anwalt die Prozedur um den Besuchsschein ersparen. Denn dann war der Inhaftierte durch die Vollmacht zum Mandanten geworden und den durfte man dann ohne Probleme besuchen. Erfahrene Straftäter hinterlegten deshalb Blankovollmachten beim Anwalt ihrer Wahl und stellten so sicher, dass ihr Anwalt schneller bei ihnen sein konnte. Eine gut organisierte Kanzlei war auf alles vorbereitet. Entweder erhielt man von der Sekretärin eine dieser Blankovollmachten oder einen Besuchsschein, den sie zuvor beantragt hatte.
Am Ende der Wartehalle befanden sich zwei große, graue Stahltüren, die sich öffneten, wenn man die Erlaubnis zum Eintritt durch die Wachbeamten erhalten hatte. Das geschah mittels eines ferngesteuerten Türöffners. Hinter diesen beiden Türen fand eine Art Sicherheitskontrolle statt, wie man sie von Flughäfen kennt. Man ging durch einen Metalldetektor und wurde danach auf Waffen oder dergleichen durchsucht, falls das elektronische Gerät angeschlagen hatte. Selbst Anwälte wurden durchsucht, obwohl dies eigentlich der Stellung eines Rechtsanwalts im Verfahren widerspricht. Schließlich soll der Anwalt auf Augenhöhe mit Gericht und Staatsanwaltschaft im Verfahren stehen und nicht wie ein Komplize des Straftäters behandelt werden. Ich war fest davon überzeugt, dass sich Richter und Staatsanwälte nicht so durchsuchen lassen mussten, wenn sie in Ausübung ihres Berufs in die JVA mussten. Die Erfahrung habe gezeigt, so wurde jedoch argumentiert, dass von Anwälten Mobiltelefone und andere verbotene Dinge eingeschmuggelt worden waren. Dennoch fand ich die Durchsuchung völlig unangemessen und verwerflich, denn in den Verfehlungen Einzelner konnte ich keine Rechtfertigung für die Kontrolle aller sehen. Und auch das Argument des Wachpersonals: »Wenn Sie nichts zu verbergen haben, dann macht es Ihnen sicher nichts aus, wenn ich einen Blick in Ihre Tasche werfe«, wirkte für mich vorgeschoben. Warum muss ich ohne irgendein Indiz beweisen, dass ich nichts zu verbergen habe? Galt hier nicht mehr die Unschuldsvermutung?
Trotz allem ließ ich diese erniedrigende und ehrverletzende Durchsuchung über mich ergehen, denn ich wollte schnell
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