Ankunft Der Woelfe
die Mumie erhalten ist.«
»Der Kiefer scheint mir etwas vorgeschoben zu sein.«
Steinmeier schüttelte den Kopf. »Entscheidend ist der Gaumen. Demnach hatte das Kind eindeutig Rictus lupinus . Möchten Sie die Röntgenaufnahmen sehen?«
»Gerne.«
»Wenden Sie sich an meine Sekretärin. Frau Müller kennen Sie ja bereits.«
»Ja. Sie ist wirklich sehr hilfsbereit.«
»Wir haben auch eine Sonde in den Mund eingeführt und Aufnahmen gemacht. Vermutlich hat das anders klingende Schreien des Säuglings die Mutter zutiefst erschreckt. Dafür spricht auch das versteckte Grab. Das Kind hatte kein christliches Begräbnis. Wahrscheinlich war es nicht einmal getauft. Die Historiker haben jedenfalls keinen Hinweis in den Kirchenbüchern gefunden.« Steinmeier hielt inne und lauschte auf die Musik. »Bachs Passionen waren nicht als Konzertmusik gedacht. Sie waren ein Bestandteil des normalen Gottesdienstes. Das nützt dem Kind zwar auch nichts mehr, tröstet aber mitunter empfindliche Gemüter. Aber Ihnen, Frau Doktor, kommen jetzt hoffentlich nicht gleich die Tränen.«
Sie blickte an der Lupe vorbei und blinzelte. »Ich bin robust, Herr Professor. Können Sie schon etwas zu dem Fell auf dem Rücken des Kindes sagen? Sind das nun Reste von Lanugohaar, wie sie manche Neugeborenen haben, oder hat das Kind an Hypertrichose gelitten?«
»Das sind keine Flaumreste. Das Fell ist eine weitere Fehlbildung. Sehen Sie sich die Haare auf der Stirn an! Und wie dicht sie sich über die Wangenpartie fortsetzen.« Steinmeier schob vorsichtig langes schwarzes Kopfhaar beiseite. »Das Haar ist nicht weich und zart, sondern fest, borstig und dunkel pigmentiert. Auch an Armen und Rücken. Diese Erkrankung ist historisch gut belegt. Es gibt sogar Gemälde von diesen armen Menschen. Nicht selten wurden betroffene Frauen und Männer, manchmal sogar Kinder, zur Schau gestellt.«
»Ja, zum Beispiel diese Julia Pastrana aus Mexiko, die hier durch Europa getingelt ist.«
Der Professor lächelte. »Aha, wie schön, Frau Doktor ist im Bilde. Nichts anderes hatte ich von Ihnen erwartet. Das einzige Geheimnis, das es jetzt zu lüften gilt, ist die Frage, was die Ursache für die Missbildungen gewesen sein könnte. Das gilt es, als Nächstes zu klären. Wollen Sie dem Kind das Geheimnis entlocken?«
»Ich werde mich bemühen, Herr Professor. Wurden die Gene bereits untersucht?«
»Ja. Wir haben einen Mosaikeffekt.«
»Also ein uneinheitliches Ergebnis?«
»So ist es. Das Fachgutachten kommt hoffentlich in den nächsten Tagen rein.«
»Könnte die Mutter eventuell in den ersten Schwangerschaftswochen eine Infektion gehabt haben? Röteln zum Beispiel.«
»Das ist in der Tat ein Aspekt, dem wir noch nicht nachgegangen sind. Das dürfen gerne Sie übernehmen, Frau Doktor.«
Eva blickte sich im Raum um. »Dann möchte ich jetzt gleich ein paar Gewebeproben nehmen. Ich würde nur zu gerne in Erfahrung bringen, ob möglicherweise ein Virus die Schäden verursacht hat. Vielleicht entdecke ich da neue Aspekte. Ich bedanke mich auf jeden Fall recht herzlich für das Vertrauen, das Sie in mich setzen, Herr Professor.«
Steinmeier nickte. »Sie werden allerdings verstehen, dass sämtliche Forschungsergebnisse vor einer Veröffentlichung über meinen Tisch gehen müssen. Und seien Sie bitte zurückhaltend bei den Probenentnahmen! Suchen Sie sich unauffällige Stellen! Sonst will das bald jeder machen.« Steinmeier zeigte zu einem Schrank. »Bedienen Sie sich! Dort finden Sie alles, was Sie benötigen. Bitte rufen Sie anschließend den Assistenten, damit er hier wieder Ordnung macht. Und schauen Sie, bevor Sie gehen, noch einmal oben in meinem Büro vorbei. Dritte Etage, Raum eins. Dann bekommen Sie einen Schlüsselcode zu einem Kühlschrankfach im Haus N. Dort können Sie Ihre Forschungsproben lagern.«
»Noch eine Kleinigkeit.« Eva räusperte sich und zeigte auf die rechte Hand des Kindes. »Die Hand ist in Pfötchenstellung verkrampft, im Gegensatz zu der anderen, die normal geballt ist. Haben Sie eine Idee, was die Ursache sein könnte?«
»Hm, Sie haben recht. Doch ich glaube nicht, dass es eine besondere Bedeutung hat.«
»Und die Nägel scheinen mir auch etwas dunkler zu sein.«
Steinmeier kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Jetzt wo Sie es sagen. So im direkten Vergleich. Vielleicht gibt es doch noch etwas Neues zu entdecken.«
11
Charité, Sonntagnacht
Er wartete im Schatten der Dunkelheit. In dieser Nacht war er der Spur eines
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