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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Die Fälschung der Welt
in einer schönen Neuausgabe von Penguin.
    Die nächsten anderthalb Wochen ging ich jeden Morgen vom Frühstückstisch zu einem beigefarbenen Ultravelours-Sofamodul, knipste eine Lampe an und las sechs bis acht Stunden ohne Unterbrechung. Ich brachte Gaddis eine gewisse berufsbedingte Neugier entgegen, aber die wäre nach ein paar hundert Seiten der
Fälschung der Welt
befriedigt gewesen. So saß ich da und las die zusätzlichen siebenhundert Seiten in einer Art Dämmerzustand, als pflanzte ich die Füße auf einen steilen Hang und stapfte hoch. Nur ungern verließ ich meinen Ultraveloursthron, egal wofür. Dass ich hier saß und geliehenes Geld verbrauchte, konnte ich nur damit rechtfertigen, dass ich dieses Bergsteigen zu einem normalen Job mit normalen Arbeitszeiten machte.
    Es gab Zitate auf Lateinisch, Spanisch, Ungarisch und sechs weiteren Sprachen zu überwinden. Schneestürme obskurer Verweise tosten um jähe Abgründe an Gelehrsamkeit, über steil abfallende Exkurse über Alchemie und die flämische Malerei, den Mithraismus und frühchristliche Theologie. Die Prosa bestand aus seitenlangen Absätzen, in denen Sauerstoff kostbar war, und die emotionale Temperatur des Romans war schon am Anfang kalt und wurde immer kälter. Der Held, Wyatt Gwyon, war liebenswert wie ein Kind («ein kleiner, verstimmter Mensch»), ansonsten aber verhinderten die satirischen Kommentare und intellektuellen Obsessionen des Autors jegliche Nähe. Es bedeutete Kampf, wollte man herausfinden, wovon oder auch nur von wem die Geschichte handelte; die Dialoge waren durchsetzt von Gedankenstrichen und oft nicht zugeordnet; Wyatt selbst schwand auf ein flüchtiges, nur selten erhaschtes Pronomen («er»); es gabdrastische Partyszenen, rein dialogische Wortunwetter, die über Dutzende von Seiten tobten. Die einzige Verpflegung, die mir auf meiner Klettertour hätte Kraft geben können, wäre eine Vertrautheit mit den literarischen Einflüssen auf Gaddis gewesen, vielleicht ein nahrhafter Pemmikan von T.   S.   Eliot und Robert Graves, den mitzunehmen mir aber nicht eingefallen war. Ich befand mich allein und unvorbereitet auf einem steilwandigen, frostigen, luftarmen, schlecht vermessenen Berg. Habe ich schon erwähnt, dass
Die Fälschung der Welt
956   Seiten hat?
    Aber ich fand es toll. Auf dem verborgenen Gipfelpunkt des Romans, hinter den Wolken untergeordneter Symbolik, jenseits der blinden Cañons antinarrativer Beatprosa, wird vom Verlust der persönlichen Integrität und der schwierigen Arbeit, sie wiederzuerlangen, erzählt. Wyatt, ein talentierter Maler und ehemaliger Seminarist Anfang dreißig, lebt in New York, ist unglücklich verheiratet und kommt als angestellter Zeichner geradeso über die Runden. Seine Ambitionen als Maler hat er begraben, möglicherweise weil ein korrupter französischer Kritiker sein Frühwerk verrissen hat, wahrscheinlicher aber wegen seiner ungeheuren Ernsthaftigkeit und weil er auf die Verdammung der Kunst durch eine puritanische Großtante in seiner Kindheit nie eine adäquate Antwort finden konnte: «Unser Herr ist der einzig wahre Schöpfer, und nur sündige Menschen versuchen, Ihm nachzueifern.» Eines Tages schlägt ihm in New York ein amerikanischer Kapitalist und Kunstsammler namens Recktall Brown einen Faustischen Pakt vor: Wyatt soll die Werke alter flämischer Meister fälschen, Brown will sie für riesige Summen verkaufen. Wyatt willigt ein, aber nach anfänglichem Erfolg zeigt sich, dass ihm doch die nötige Rückgratlosigkeit fehlt. Er überlegt, ob er seine religiösen Studien wiederaufnehmen soll, doch als er nach Hause nach Neuengland kommt, stellt er fest, dass sein Vater, ein protestantischer Geistlicher, sich dem Mithraismus verschrieben und den Verstand verloren hat. Daraufhin begibt sich Wyatt aufso etwas wie eine lange Pilgerreise, erst nach New York, wo er versucht, seine eigenen Fälschungen zu entlarven, später durch Europa. Letztmals wird er gesehen, als er auf Seite 900 ein spanisches Kloster verlässt, um «endlich bewusst zu leben». Nachdem er das amerikanisch-protestantische Misstrauen gegenüber der Kunst überwunden und den gefährlichen Lockungen des amerikanisch-protestantischen Markts widerstanden hat, scheint er endlich auf dem Weg zu sein, ein richtiger Maler zu werden.
    Damals, am Berg, war mir nicht klar, dass ich mich an die Parallelen zwischen Wyatts Geschichte und meiner eigenen Lage klammerte: unser seltsam isoliertes

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