Anleitung zum Alleinsein
soll dich denn dann lesen?»
Aber das machte die Tatsache, dass ich aufgehört hatte, nur noch schlimmer. Gerade weil ich genau der Richtige war, um Gaddis zu lesen, hatte ich das Gefühl, dass ich ihn persönlich betrog und seine Erwartungen enttäuschte, wenn ich
JR
nicht zu Ende las. Von meiner kongregationalistischen Kindheit an war ich auf direktem Weg zur Anbetung der Kunst am College geschritten, ohne dass mir der Übergang aufgefallen wäre und ohne dass ich beide Glaubensbekenntnisse so ganz akzeptiert hätte. Eines Tages rief eine Sekretärin der Congregational Church an und fragte, ob ich noch Mitglied sein wolle, ich verneinte, und das war’s. Aber es fällt viel schwerer, einen kleinen, umkämpften Kult hinter sich zu lassen als eine Allerweltskirche in irgendeiner Vorstadt. Nichts in meinen Kongregationalistenjahren hatte mich auf den fanatischen Eifer, die Schuld einflößende Autorität von Mr. Schwierig vorbereitet.
Die Fälschung der Welt hat etwas Mittelalterlich-Christliches. Der Roman ist wie ein riesiges Landschaftsgemälde des modernen New York, bevölkert mit Hunderten verlorener, aber energiegeladener kleiner Gestalten, von Brueghel oder Bosch auf Holztafeln gemalt und unter Schichten von vergilbtem Firnis eigentümlich alt aussehend. Selbst der blaue Himmel im Buch (die Wendung «Wieder ein blauer Tag» ist ein Verzweiflung auslösendes Leitmotiv) leuchtet wie ein Ölfarben-Himmel in einem Kunstmuseum, außerhalb von dessen Wänden, vergessen, die Ära der Wasserstoffbomben und der Armee-McCarthy-Anhörungen herrscht, in der der Roman geschrieben wurde. Die Namen, die da fallen, sind nicht Harry Truman, sondern Hans Memling, nicht Elvis, sondern Paracelsus.
Und dennoch ist das Buch ganz klar aus den frühen Fünfzigern. Schält man die Gelehrsamkeit ab, hat man den
Fänger im Roggen
: eine düstere Winterreise durch ein heruntergekommenes Manhattan, eine Suche nach Authentizität in einer verlogenen modernen Welt. Indem er über das Thema der Kunstfälschung improvisiert, füllt Gaddis seinen Roman mit jeder denkbaren Sorte von Betrügern, Falschmünzern, Poseuren, Lügnern. Aber im Gegensatz zu Holden Caulfield haben die Hauptfiguren in
Die Fälschung der Welt
selbst Anteil an der Verlogenheit. Der junge literarische Wichtigtuer Otto Pivner arbeitet an einem Stück, dessen Handlung, wie er sagt, «noch ein wenig Straffung verträgt». Der Erzähler kommentiert diese Lüge in einem Ton, der für den Roman bestimmend ist, einem schonungslosen und zugleich nachsichtigen Ton:
(Damit meinte Otto, dass noch eine Art Handlung dazukommen müsse, um die Aneinanderreihung von Monologen zu motivieren, in denen Gordon, eine Figur, die Otto in seinen besseren Momenten ähnelte und die Otto außerordentlich bewunderte, Dinge sagte, die Otto zufällig mitgehört hatte oder die ihm selbst zu spät eingefallen waren.)
Wyatt Gwyon mag die romantische Projektion der künstlerischen Aspirationen des Autors sein («Wie ambitioniert du bist!», ruft Esther, seine Frau, unglücklich aus), allerdings ist es Otto, der Gaddis’ eigene Verwirrung, seine Demütigungen und Enttäuschungen zu verkörpern scheint. Ottos Biographie deckt sich mit der von Gaddis – beide wuchsen vaterlos auf, beide verbrachten einige Zeit in Mittelamerika und kehrten per Bananendampfer nach New York zurück, einen Arm, wenngleich unverletzt, in einer malerischen Schlinge –, und vermutlich ist das Element spielerischen Fabulierens im Buch teilweise auchdarauf zurückzuführen, dass sich Gaddis in die eigene Satire einbezogen hat.
Der einzig genuine Künstler in
Die Fälschung der Welt
ist ein frommer, junger katholischer Komponist namens Stanley. Das ganze Buch hindurch arbeitet er an einem Orgelrequiem, das er in einer baufälligen alten Kirche in Norditalien zu spielen hofft. Auf den allerletzten Seiten, als die Romanhandlung zurück nach Europa führt, reist Stanley zu der Kirche und beginnt mit dem Requiem, da er die Warnung des Küsters nicht verstanden hat, er solle nur ja nichts Dissonantes oder zu Basslastiges spielen. Die Kirche fällt in sich zusammen und erschlägt ihn, und
Die Fälschung der Welt
endet mit seinen wohl bekanntesten Zeilen: «Später konnte sogar ein Teil seines Werks geborgen werden. Es ist übrigens bis heute nicht in Vergessenheit geraten, wird von Eingeweihten hochgeschätzt, wenn auch nur selten aufgeführt.»
Die anderen bekannten Sätze in der
Fälschung der Welt
spricht Wyatt
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