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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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anzuhören.
    Einige Monate später meldete sich eine dieser Schreiberinnen, eine Mrs.   M––– aus Maryland, erneut, diesmal mit Beweisen, dass sie mich tatsächlich gelesen hatte. Sie begann damit, dass sie dreißig ausgefallene Wörter und Wendungen aus meinem Roman auflistete, Wörter wie «Diurnalität» und «Antipoden», Wendungen wie «elektropointillistische Weihnachtsmanngesichter». Sodann stellte sie die schreckliche Frage: «Für wen schreiben Sie eigentlich? Für den Durchschnittsmenschen, der einfach mal gern ein gutes Buch liest, ja wohl nicht.» Und sie reichte die folgende Karikatur meiner selbst und meines mutmaßlichen Publikums hinterher:
     
    die Elite von New York, die Elite, die schön, dünn, magersüchtig, neurotisch und überfeinert ist, die nicht raucht, alle drei Jahre eine Abtreibung hat, alles desinfiziert, inLofts oder Penthäusern wohnt – die überlegene Spezies der Menschheit eben, die
Harper’s
und den
New Yorker
liest.
     
    Der Subtext schien zu sein, dass das Schwierige in der Literatur das Rüstzeug gesellschaftlich privilegierter Leser und Schriftsteller sei, die über das bloße Vergnügen eines «guten Buchs» die Nase rümpfen und das hämische, artifizielle Vergnügen, sich anderen Leuten überlegen zu fühlen, vorziehen. Für Mrs.   M––– war ich ein «aufgeblasener Snob und ein echtes Arschloch».
    Ein Teil von mir, der Teil, der nach meinem Vater kommt – der Gelehrte wegen ihres Intellekts und ihres großen Wortschatzes bewunderte und selbst so etwas wie ein Gelehrter war   –, wollte Mrs.   M––– seinerseits ein paar Dinge an den Kopf werfen. Doch ein anderer, ebenso starker Teil von mir war betroffen darüber, dass Mrs.   M––– sich von meiner Sprache ausgeschlossen fühlte. Sie klang ein bisschen wie meine Mutter, die lebenslang gegen jede Art von Elitismus Front machte und den mythischen «Durchschnittsmenschen» rhetorisch weidlich ausschlachten konnte. Auch meine Mutter hätte mich fragen können, ob Wörter wie «Diurnalität» wirklich sein mussten oder ob ich einfach nur damit protzen wollte.
    Angesichts einer Feindseligkeit wie der von Mrs.   M––– bin ich wie gelähmt. Wie sich zeigt, hänge ich zwei vollkommen verschiedenen Modellen davon an, wie Literatur mit ihren Lesern in Verbindung steht. In dem einen Modell, das von Flaubert verfochten wurde, sind die besten Romane große Kunstwerke, diejenigen, die sie zu schreiben in der Lage sind, verdienen höchste Anerkennung, und wenn der Durchschnittsleser das Werk verwirft, so deshalb, weil der Durchschnittsleser eben ein Banause ist; der Wert eines jeden Romans, selbst eines mediokren, besteht unabhängig davon, ob die Leute etwas mit ihm anfangen können. Nennen wir dies das Statusmodell. Es lädt einzu einem Diskurs über das Genie und die historische Bedeutung der Kunst.
    Im entgegengesetzten Modell stellt ein Roman eine Übereinkunft zwischen Autor und Leser dar, wobei der Autor die Wörter liefert, aus denen der Leser sich ein angenehmes Erlebnis schafft. Das Schreiben führt also zu einer Balance zwischen Selbstausdruck und Kommunikation innerhalb einer Gruppe, mag diese Gruppe nun aus Liebhabern von
Finnegans Wake
oder Fans von Barbara Cartland bestehen. Jeder Schriftsteller ist zuallererst Mitglied einer Gemeinschaft von Lesern, und der tiefste Zweck des Lesens und Schreibens von Literatur ist der, eine Verbundenheit aufrechtzuerhalten, einer existentiellen Einsamkeit zu widerstehen, und daher verdient ein Roman die Aufmerksamkeit des Lesers nur so lange, wie der Autor das Vertrauen des Lesers aufrechterhält. Das ist das Kontraktmodell. Der Diskurs dreht sich hier um Vergnügen und Verbundenheit. Der hätte meiner Mutter gefallen.
    Auf einen Anhänger des Kontraktmodells wirkt die Status-Gruppe wie eine arrogante, geschmäcklerische Elite. Für den wahren Statusgläubigen hingegen ist das Kontraktmodell ein Rezept für Liebedienerei und ästhetischen Kompromiss sowie ein Babel konkurrierender literarischer Subgemeinden. Bei manchen Romanen spielt diese Unterscheidung natürlich gar keine Rolle.
Krieg und Frieden
, Edith Whartons
Haus der Freuden
: Für Sie ist das Kunst, für mich Unterhaltung, und beide verschlingen wir es. Doch beide Modelle divergieren erheblich, wenn die Leser ein Buch schwierig finden.
    Dem Kontraktmodell zufolge ist Schwierigkeit ein Hinweis darauf, dass es Probleme gibt. In den schwerwiegendsten Fällen überführt sie einen Autor der Verletzung

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