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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Leben in Lower Manhattan, unsere gescheiterten Versuche, uns an den Markt zu verkaufen, unsere bitterernsten Zweifel an der Kunst, unsere Sehnsucht nach Buße, unsere verrückt gewordenen Väter. Ich war einfach nur froh darüber, ein gutes, schwieriges Buch zu lesen, und ich war von mir beeindruckt, dass ich es schaffte. Wyatt auf seiner Pilgerreise zu begleiten wurde zu meiner eigenen Pilgerreise. Während jener zehn Tage war das Loft, trotz der gurrenden Tauben, der stillste Ort, an dem ich je gewesen war. Die Stille war tief, metaphysisch. Als ich dann auf der letzten Seite der
Fälschung der Welt
ankam, fühlte ich mich gestärkt, die Scheidung, die Todesfälle, die Umzüge anzugehen, die mich draußen in der sonnenbeschienenen Welt erwarteten. Ich fühlte mich tugendhaft, so als wäre ich fünf Kilometer gelaufen, hätte meine Kohlsuppe gelöffelt, wäre beim Zahnarzt gewesen, hätte meine Steuererklärung gemacht und wäre in die Kirche gegangen.
     
    Eine recht gute Definition von Universität ist die, dass sie ein Ort ist, an dem man Leute dazu bringt, schwierige Bücher zu lesen. Meine großen Lernmomente kamen jedenfalls immer dann, wenn ich mir neues Rüstzeug erwarb, um etwas Schwierigeszu entschlüsseln – wenn ich gezwungen war, ganz allein dahinterzusteigen, dass Emily Dickinson manchmal genau das Gegenteil dessen meinte, was ihre Wörter aussagten, oder wenn mein Deutschprofessor uns mit einem mysteriösen Grinsen fragte, ob überhaupt die Möglichkeit bestehe, dass Josef K.
schuldig
sei. Um etwas über Ironie, Mehrdeutigkeit, Symbolik, Ton und Perspektive zu lernen, war es sinnvoll, die anspruchsvollsten Texte zu lesen.
    Vier Jahre Lektüre anspruchsvoller Texte hatten eine kumulative Wirkung. Als Erstsemester glaubte ich, es wäre cool, mit dem Erfinden von Geschichten meinen Lebensunterhalt zu verdienen, es zu meinem Beruf zu machen, meinen Namen gedruckt zu sehen. Im letzten Studienjahr war es dann mein Ehrgeiz, literarische Kunstwerke zu schaffen. Ich fand es selbstverständlich, dass die besten Romane methodisch knifflig waren, sich beiläufiger Lektüre widersetzten und es verdienten, dass man sich lange mit ihnen auseinandersetzte. Selbstverständlich fand ich auch, dass das größte Kompliment, das dieser Kunst gemacht werden konnte, darin bestand, sie an der Universität zu lehren.
    Meine Eltern verstanden das nicht. Als ich, nach dem College, an meinem ersten Buch zu schreiben begann, spürte ich den skeptischen Blick meines Vaters auf mir, hörte ihn Fragen stellen wie: «Welchen Beitrag zur Gesellschaft leistest du eigentlich mit deinen Fähigkeiten?» Am College hatte ich Derrida, Marx und die feministischen Kritikerinnen bewundert, Autoren, deren Aufgabe es war, an der modernen Welt herumzukritteln. Ich dachte, vielleicht könnte auch ich jetzt der Gesellschaft nützlich sein, indem ich krittelnde Literatur schrieb. In der hervorragenden öffentlichen Bücherei von Somerville, Massachusetts, stellte ich fest, dass es einen Kanon intellektueller, gesellschaftlich randständiger, weißer, amerikanischer, männlicher Erzähler gab. Dieselben Namen   – Pynchon, DeLillo, Heller, Coover, Gaddis, Gass, Burroughs, Barth, Barthelme, Hannah, Hawkes, McElroy undElkin – tauchten immer wieder gemeinsam in Anthologien und in den respektvollen Würdigungen zeitgenössischer Kritiker auf. Obwohl sie sich stilistisch unterschieden, schienen sie alle davon auszugehen, dass am Nachkriegsamerika etwas neu, fremdartig und falsch war. Sie teilten das postmoderne Misstrauen gegenüber dem Realismus, das der Kritiker Jerome Klinkowitz wie folgt zusammenfasste: «Wenn die Welt schon absurd ist, wenn das, was als Realität gilt, erschreckend irreal daherkommt, warum dann Zeit darauf verwenden, es abzubilden?»
    Um mir, wenn nicht meinem Vater, zu beweisen, dass ich einem ernst zu nehmenden Beruf nachging, versuchte ich, dieser Zunft beizutreten. Ich war einer jener schmalen jungen Männer mit schauerlicher Brille und Secondhand-Klamotten, die man in der U-Bahn in Boston und Brooklyn vor sich hat, junge Männer, die aussehen, als besäßen sie Unmengen von Wissen über Kleinlabel-Rockbands, Avantgarde-Literatur oder Videotechnologie und als gewähre die schiere Menge dieses Wissens eine Art psychischen Schutz. Und Gaddis sollte mein Ideal sein. Gaddis, so die generelle Übereinkunft, war der richtig clevere, richtig zornige, richtig abschreckende Systemautor.
Die Fälschung der Welt
war ein Urtext der

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