Anleitung zum Alleinsein
und dann in einem kleinen Internat in Connecticut auf, das er im Alter von fünf bis dreizehn Jahren besuchte. Fünf ist jung fürs Internat. Fünf scheint mir in Gaddis’ Biographie eine wichtige Zahl zu sein. In
JR
spricht einAlter Ego von Gaddis, ein zorniger Säufer namens Jack Gibbs, der ebenfalls mit fünf aufs Internat geschickt wurde, davon, dass er «seit dem Tag, an dem ich laufen konnte, im Weg gewesen» sei, und beschreibt die Einsamkeit im Internat:
Am Ende des Tages allein in dem Zug, die Lichter gehen an in diesen Städtchen Connecticuts schaue mit großen Augen auf die leere Straßenecke trockenes Käsesandwich verlangen einen Dollar nicht mal Butter darauf, fährt schließlich in diesen trostlosen Bahnhof ein, Angst auszusteigen und Angst drinzubleiben […] Schulwagen wartet da wie […] ein verdammter offener Leichenwagen glaub jemand erwartet daß man da groß wird.
Gaddis war als junger Mann ein Rüpel, ein Trinker. Von einem Nierenleiden vom Krieg ferngehalten, studierte er in Harvard Englisch und wurde Herausgeber der Satirezeitschrift
Lampoon
, doch in seinem letzten Studienjahr wurde er nach einem Zusammenstoß mit der Cambridger Polizei ohne Abschluss der Universität verwiesen. Danach trieb er sich sieben etwas zwielichtige Jahre in Europa, Lateinamerika und New York herum, und in dieser Zeit arbeitete er an
Die Fälschung der Welt
. In dessen Erscheinungsjahr heiratete er die Schauspielerin Pat Black, mit der er bald zwei Kinder hatte. Hier nun wechselt die Stimmung seiner Biographie abrupt, die ausländischen Schauplätze weichen einem Geschäfts- und Vorstadtleben mit Kindern in den fünfziger Jahren. Wie Melville hundert Jahre vor ihm verdiente sich Gaddis seinen Lebensunterhalt in Lower Manhattan. Er schrieb Werbetexte unter anderem für IBM, Eastman Kodak, Pfizer und die Armee der Vereinigten Staaten. (Jemand, der bei IBM seine Arbeit bewertete, empfahl für eines seiner Projekte einen «einfacheren Stil» und bemängelte, dass «der ganze Text vielleicht zu sehr eine undurchdringliche Masse» sei.) Zwanzig Jahre lang,selbst dann noch, als der literarische Geschmack des Landes vom Realismus, der die Fünfziger dominierte, zu den schrägeren Spielarten von
Portnoys Beschwerden
und
Catch-22
umgeschlagen war, blieb Gaddis von der Bildfläche verschwunden. Er begann einen «Roman der Geschäftswelt» und ein Stück über den Bürgerkrieg und gab beides wieder auf. Er rauchte und trank viel. Seine erste Ehe zerbrach, als er in Croton-on-Hudson im Bundesstaat New York lebte. Erst Ende der sechziger Jahre kratzte er genügend Stipendiengelder zusammen, um zur Vollzeitarbeit an seinem Roman der Geschäftswelt zurückkehren zu können.
1975, als das Buch erschien, hatte sich die Stimmung im Land der seinen angepasst.
JR
wurde ausgiebig und bewundernd besprochen und mit dem National Book Award bedacht. Die klobige Taschenbuchausgabe mit den klobigen Titellettern war, wie die LPs von Patti Smith und das
Moosewood Cookbook,
in den Secondhandläden und verslumten Studentenbuden meiner Collegezeit ein gewohnter Anblick. Der Buchrücken wies jedoch oft verdächtig wenige Runzeln auf, ein seltsam niedriger Preis stand mit Bleistift auf der Innenseite des Einbands, oder das Lesezeichen, vielleicht ein Zigarettenblättchen oder ein Ticketabriss von einem Talking-Heads-Konzert, steckte auf Seite 118 oder 19 oder 53, denn Gaddis’ Literatur war, um das Mindeste zu sagen, schwieriger denn je.
JR
ist ein 726 Seiten starker Roman, der nahezu ausschließlich aus mitgehörten Stimmen besteht, ohne ein einziges Anführungszeichen, ein «sagte er» oder «sagte sie», ohne jeden irgendwie gearteten konventionellen Erzählfluss, ohne ein «am selben Abend dann» oder ein «unterdessen in New York», ohne einen einzigen Kapitelanfang, nicht einmal einen Absatz, dafür mit Tausenden Bindestrichen und Ellipsen, abermals Dutzenden Figuren und einer lächerlich komplizierten Handlung, die auf Wagners
Ring
basiert und sich um ein Multimillionendollar schweres Wirtschaftsimperium dreht, dessen Besitzer und Lenker ein elfjähriger Schuljunge aus Long Island namens JR Vansant ist.
JR ist der schmuddelige Junge, über den man lacht, weil er noch nicht alt genug ist, dass man ihn hassen könnte, der Präpubertäre, dessen gesamte Existenz den Sinn hat, Sachen haben zu wollen und sie gegen andere, bessere Sachen einzutauschen. Zunächst macht er das mit einem Klassenkameraden:
Mann, so ’n Scheiß. Du
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