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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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viermal heute. Mama?
Schrei nicht so David   … Er kippte die Tüte aus, – und ich   … hab   …
Schwarz! Du hast gespickt. Papa du hast gespickt!
Gespickt?
     
    JR
ist für den aktiven Leser geschrieben. Man ist gut beraten, wenn man einen Bleistift bereithält, um damit Handlungsmomente zu markieren und auf die hintere Innenseite des Umschlags Flussdiagramme zu zeichnen. Der Roman ist ein Chaos aus Dutzenden miteinander in Zusammenhang stehender Schiebereien, Deals, Verführungen, Erpressungen und Täuschungsmanöver. Zwischen den Szenen weicht der Dialog vorübergehend Bandwurmsätzen, deren Wirkung die eines verschwommenenHandkamera-Videos oder eines beschleunigt abgespielten Films ist. Die vorbeirasenden Bilder zeigen denaturierte, kommerzialisierte Landschaften   – Bäume, die gefällt, Felder, die asphaltiert, Straßen, die verbreitert werden   –, Landschaften, die den modernen Leser daran erinnern, was für ein ästhetischer Schock das automobile Amerika nach dem Krieg gewesen sein muss, wie bestürzend und unheimlich die ersten Ladenzeilen, die ersten zwei Hektar großen Parkplätze bestimmt gewesen sind.
    Und wirklich, will man Gaddis und seine Schwierigkeit verteidigen, ließe sich anführen, dass die konventionelle Literatur, vorangetrieben von substantiellen Figuren und basierend auf einem inneren Kontrakt zwischen Leser und Autor, den gesellschaftlichen und technologischen Krisen, die die Schriftsteller des 20.   Jahrhunderts um sich herum entstehen sahen, einfach nicht gewachsen war. Die modernen wie die postmodernen Autoren suchten Zuflucht bei einer Art Notstandsliteratur. Die modernen verwandten neue, selbstreflexive Methoden, um sich der neuen Realität zu stellen und die untergehende alte zu bewahren. Das postmoderne Projekt war noch radikaler: Widerstand gegen Vereinnahmung oder Geschlucktwerden durch ein alles und jeden vereinnahmendes, alles und jeden schluckendes System. Der Feind war die Schließung, und der entging man, indem man die Teilnahme am System verweigerte. Für Pynchon hieß das Flucht und Paranoia, für Burroughs moralische Übertretung. Für Gaddis hieß es, sehr zornig zu sein – so zornig, dass er ab einem bestimmten Punkt nicht mehr verständlich war. Doch indem er eine formale Schließung vermied, riskierte Gaddis eine unverblümtere Form der Geschlossenheit: erschöpfte Leser, die seine Bücher irgendwann geschlossen ließen. Ich hatte
JR
halb durch, als ich ausstieg. Aber selbst da gab mir sein Zorn noch zu denken: Hatte er mich betrogen oder ich ihn?
     
    Literatur ist die elementarste aller menschlichen Künste. Literatur ist Geschichtenerzählen, und unsere Wirklichkeit besteht wohl aus den Geschichten, die wir über uns selbst erzählen. Literatur ist auch konservativ und konventionell, weil die Struktur des literarischen Marktes relativ demokratisch ist (Romanschriftsteller verdienen ihren Lebensunterhalt Buch um Buch und bereiten doch einem großen Publikum Freude) und weil ein Roman jedem seiner Leser zehn oder zwanzig Stunden einsame Aufmerksamkeit abverlangt. An einem Gemälde kann man fünfzigmal vorbeigehen, bevor man es zu verstehen beginnt. Eine Sonate von Bartók kann man sich immer mal wieder anhören, bis einem ihre Struktur allmählich klarer wird. Ein schwieriger Roman aber steht einfach ungelesen im Regal – es sei denn, man ist Student und gezwungen, Virginia Woolf oder Beckett durchzuarbeiten.
     Das mag einen zu einem besseren Leser machen. Will man sich aber auf das postmoderne Programm einlassen, will man den Gedanken, jedes formale Experiment sei ein heroischer Akt des Widerstands, übernehmen, muss man glauben, dass der Notstand, auf den Gaddis und seine Pionierkollegen reagiert haben, auch fünf Jahrzehnte später noch ein Notstand ist. Man muss glauben, dass unser Alltag als in Vorstädten lebende, am Benzintropf hängende, fernsehende Amerikaner nach wie vor so neu und drängend ist, dass das altmodische Geschichtenerzählen ihm nicht gerecht wird. Man muss gewissermaßen Kritiker sein. Und sobald Literatur und Literaturkritik voneinander abhängig geworden sind, beginnt es mit den Trugschlüssen.
    Da wäre der Trugschluss des Einfangens: Beispielsweise wird der Roman
Finnegans Wake
häufig dafür gelobt, dass er das menschliche Bewusstsein «einfange», oder es werden die Längen in
JR
damit erklärt, dass sie eine schwer greifbare «Wirklichkeit des Nachkriegsamerikas einfingen» – als wäre ein Roman in erster Linie eine

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