Anleitung zum Alleinsein
ethnographische Aufzeichnung, ja als lägeder Sinn des Lesens darin, nicht selber angeln zu gehen, sondern den Fang eines anderen zu bewundern. Da wäre der Trugschluss des Sinfonischen: Oft werden Motive und Stimmen eines Buchs so beschrieben, als «brandeten» sie über den Leser wie ein Orchester hinweg – als würden bei der Lektüre von
JR
die Seiten sich einfach von selbst umblättern und Wörter einem wie Arpeggien in den Kopf wehen. Da wäre der kunsthistorische Trugschluss, eine pädagogische Behelfsmaßnahme, die der geldschweren Welt der visuellen Künste entlehnt ist, wo der Wert eines Werks hauptsächlich von seiner Novität abhängt, als wäre die Literatur formal ebenso frei wie die Malerei, als wäre das, was den
Großen Gatsby
und Willa Cathers
Neue Erde
zu guten Romanen macht, in erster Linie ihre technische Innovation. Und da wäre der epidemische Trugschluss vom Dummen Leser, den jede moderne «Ästhetik des Schwierigen» enthält, in der das Schwierige eine «Strategie» zum Schutz der Kunst vor Vereinnahmung ist und der Zweck dieser Kunst darin besteht, dass der arglose Leser «verstört» oder «genötigt» oder «herausgefordert» oder «unterwandert» oder «verwundet» wird – als bestünde das Publikum des Autors irgendwie immer wieder aufs Neue aus Charlie Browns, die Anlauf nehmen, um Lucys Fußball wegzuschießen, und als wäre es bei einem Schriftsteller eine Tugend, einer jener Rüpel zu sein, die während eines geselligen Beisammenseins Propagandareden halten.
Es ist bedauerlich für Gaddis, dass so viele seiner Freunde, Spezialisten und Verteidiger an der Verbreitung dieser Trugschlüsse teilhaben. Joseph Tabbi, der Herausgeber von Gaddis’ Essays, der aufrichtig an die subversive Kraft des Schwierigen glaubt, ist der Meinung, die Apokalypse – der Tod des Individuums, der Triumph des Systems – stehe nicht nur unmittelbar bevor, sondern sei schon eingetreten, ohne dass wir es gemerkt hätten, also könne man den orphischen Gaddis für die Unzugänglichkeit seiner Texte nicht verantwortlich machen. TabbisApologien sind ein hübsches Beispiel für einen Feuermelder-Avantgardismus:
Gaddis’ Publikum ist nicht zuletzt deshalb begrenzt, weil die am Realismus des 19. Jahrhunderts geschulten Leser in seinem Werk die Merkmale des Konventionellen und jene Zeichen vermissen, an denen die Figuren allzu fix als abgerundet und ganz erkannt werden können. Solche konventionellen Figuren sind Agenzien in einer bürgerlichen und industriellen Welt, die heute in den Vereinigten Staaten weitgehend historisch ist.
Wenn man sich mit einem Roman gut unterhält, ist man auf das postindustrielle System reingefallen; identifiziert man sich immer noch mit Figuren, sollte man noch einmal den Kurs Postmoderne 101 belegen. William Gass benennt in seinem Vorwort zu
Die Fälschung der Welt
, ein «wir» gebrauchend, in das er, wie ich vermute, William Gass gar nicht einbezogen sieht, den Kinderkram, den wir allmählich hinter uns lassen sollten: «Zu häufig tragen wir in die Literatur eine Vorliebe für ‹Realismus› hinein, mit dem wir in der Regel aufgewachsen sind.» Seine Verteidigung des Schwierigen ergänzt die von Tabbi, strotzt allerdings vor Sophisterei und stilistischem Bemühen. «Wenn der Autor an seinem Werk arbeitet», schreibt Gass, «wird der Leser vielleicht auch daran arbeiten müssen; vertreibt sich ein Schriftsteller dagegen sowohl Zeit als auch Wörter, kann sich der Leser entspannen und beim Lesen gemächlich voranschreiten.» Gaddis’ Literatur hätte weniger derartige Freunde und bessere Feinde nötig gehabt. Selbst Steven Moore, ein Gaddis-Spezialist, dessen Kritik ein Muster an Klarheit und intelligenter Fürsprache ist, lässt sich von seiner Begeisterung überwältigen. Für Moore ist
JR
ein «schlankes und ökonomisches» Buch, weil dessen auf Schlussfolgerungen beruhende, rein dialogische Form den Leserzwinge, fehlende Beschreibungen und Informationen selbst beizusteuern; der Zweck eines Romans ist also, na was wohl, Material zu erfassen und effizient zu speichern?
Im Hinblick auf die Literaturkritik habe ich die kleine Hoffnung, dass mal etwas weniger von Orchestern und Unterwanderung die Rede ist und dafür mehr vom Erotischen und Kulinarischen der Kunst. Man denke sich den Roman als Liebhaber: Heute Abend bleiben wir mal zu Hause und machen es uns richtig schön; nur weil man da berührt wird, wo man auch berührt werden will, heißt das noch lange nicht,
Weitere Kostenlose Bücher