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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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überholt sein werden, auf die Freisetzung des «Geistes der Kreativität» und die Erneuerung der «Lebensfreude». Hier nun Dodsons «futuristische Phantasie» der Befreiung:
     
    Es ist Silvester 1999.   Alle Fernsehstationen haben sich bereit erklärt, mich «Orgasmen in ganz Amerika» produzieren zu lassen. Jeder Bildschirm wird hochkünstlerische Hightech-Pornos zeigen, geschaffen von den besten Talenten, die dieses Land zu bieten hat. Schlag Mitternacht wird die gesamte Bevölkerung bis zum Orgasmus für den Weltfrieden masturbieren.
     
    Es war Maos schlimme Eingebung, dass eine Revolution, wenn sie denn wirklich erfolgreich sein soll, niemals aufhören darf, und unsere Variante der Nonstop-Revolution findet ihren Niederschlag in den Sexratgebern: eine unaufhörliche Propaganda der Selbstbeweihräucherung, verbunden mit einer unaufhörlichen Beschwörung des noch immer mächtigen Feindes. Sollte der Sieg in der sexuellen Revolution je verkündet werden, bräuchten die Menschen gar keine Belehrung und Anleitung bei kommerziellen Anbietern mehr zu suchen. Folglich füllen unsere Expertinnen ihre Bücher mit Mahnungen, nicht zu vergessen, wie viel besser wir dran seien als unsere Großeltern. Sie preisen die Wissenschaft von Alfred Kinsey und Masters und Johnson, sie zerstören fröhlich den Mythos des Freud’schen «reifen» vaginalen Orgasmus, sie machen sich unter Bannern wie «Die Annalender Unwissenheit» über die hoffnungslose Dummheit der Menschen vor einem Jahrhundert lustig. Doch die kläffenden Köter der sexuellen Repression streifen noch immer in Rudeln vor unserer Tür herum. Eine Autorin rügt «enge, patriarchalische Familienwerte im Stil der fünfziger Jahre» und «unsere sexfeindliche, schamhafte Erziehung», eine andere die «traditionelle Ehe» und die «Anti-Porno-Aktivistinnen, die sich unbedingt ihre romantischen Illusionen bewahren wollen». Wirklich jede sucht die Verantwortung bei der Religion. Wenn wir den Expertinnen glauben wollen, leben wir in einem sexuell unterdrückten Land unter der Knute von Katholizismus und Unwissenheit.
    Ich frage mich, auf welchem Planeten diese Expertinnen leben. Offenbar ignorieren sie völlig, wie sich die Fünfzehnjährigen von heute verhalten und kleiden, sie verkennen die Atmosphäre sexueller Freizügigkeit, deren unmittelbare Nutznießer sie doch selber sind, und sie haben keinen Schimmer von dem jüngst entstandenen großen Korpus an wissenschaftlicher Literatur aus der Feder von Peter Gay und anderen, die unter dem Firnis der viktorianischen «Repression» ein Universum sexuellen Erlebens enthüllt haben, das dem unseren an Weitläufigkeit in nichts nachstand. Zweifellos gibt es noch immer ein paar amerikanische Teenager, die sich entschieden haben, in ihrem Leben größeres Gewicht auf religiöse Skrupel zu legen als auf die Popkultur. Aber wie kommt Dr.   Block dazu, diesen Jugendlichen zu sagen, dass sie sich falsch entschieden haben? Doch die überwältigende Mehrheit der jungen Leute, die sich eher für
Baywatch
als für die Bibel interessieren, hat wirklich Glück, in einer Zeit zu leben, in der es beispielsweise zum Allgemeinwissen gehört, dass Frauen zum Orgasmus kommen und dass nur wenige, wenn überhaupt welche, vaginal sind. Allerdings lohnt sich der Hinweis darauf, dass dieses Allgemeinwissen durch den wachsenden Einfluss der Frauen verbreitet wurde und nicht umgekehrt.
    Wie mannhaft ich der Nostalgie auch widerstehe, haben dieviktorianischen Verschleierungen doch einen Reiz für mich. Dr.   Block bemerkt in einem untypischen Anfall von Weisheit: «Das Errichten eines Tabus birgt die Ironie, dass etwas, sobald es verboten ist, oftmals sehr interessant wird.» In einer Zeit angeblicher Unterdrückung hatte Sex wenigstens den Vorzug, einen privaten Raum abzutrennen. Liebende sahen sich in Opposition zur offiziellen Kultur, was den Effekt hatte, dass jede Entdeckung, die sie machten, zu einer
persönlichen
wurde. Die Vision von einem langen Leben mit unablässig heißem, «erfüllendem» Sex, den es in wirklich jedem Haushalt gebe, eine Vision, die unsere gegenwärtigen Expertinnen verbreiten, und sei es als Ideal, hat etwas zutiefst Langweiliges. Obwohl für mich die Erinnerung daran, wie unschuldig ich mit Anfang zwanzig war, etwas Schmerzhaftes hat, habe ich doch nicht den Wunsch, mein Leben umzuschreiben. Das würde nur jene Augenblicke der Erkenntnis eliminieren, in denen sich wie aus dem Nichts eine ganze Erfahrungsperspektive

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