Anleitung zum Alleinsein
steckte in einem Umschlag mit der Adresse meines Neffen Nick, der mit seinen sechs Jahren gerade angefangen hatte, selber Briefe zu schreiben. Womöglich schämte sich mein Vater, einen Brief abzuschicken, der, wie er wusste, nicht völlig logisch war; wahrscheinlicher aber war es angesichts des Zustands seines Hippokampus, dass er ihn einfach vergessen hatte. Der Brief, der für mich zum Symbol einer unsichtbar heroischen Willensanstrengung wurde, ist in einer winzigen Bleistiftschrift gehalten, die immerzu aus der Horizontalen schwenkt:
Lieber Nick,
vor ein paar Tagen haben wir Deinen Brief erhalten und uns darüber gefreut, wie gut Du Dich in der Schule machst, besonders in Mathe. Es ist wichtig, gut schreiben zu können, da die Fähigkeit, Ideen auszutauschen, darüber bestimmen wird, welchen Nutzen ein Land aus den Ideen anderer Länder ziehen kann.
Die meisten Deiner nächsten Verwandten können gut schreiben und haben mir dadurch eine Last von den Schultern genommen. Ich hätte lernen sollen, besser zu schreiben, aber es ist so schnell gesagt: Lass das mal Mom machen.
Ich weiß, dass meine Schrift nicht leicht zu lesen ist, aber ich habe Probleme mit den Nerven in meinen Beinen und ein Zittern in den Händen. Wenn ich mir ansehe, was ich geschrieben habe, glaube ich, dass Du wohl Schwierigkeiten haben wirst, es zu verstehen, aber mit ein wenig Glück könnte ich mit Dir in Kontakt bleiben.
Wir hatten einen Wetterumschwung von kalt und nass zu trocken und schönem blauem Himmel. Ich hoffe, es bleibt so. Sei weiter schön fleißig.
Viele Grüße,
Grandpa
PS: Danke für die Geschenke.
Herz und Lungen meines Vaters waren sehr kräftig, und meine Mutter bereitete sich schon auf zwei, drei weitere Jahre Endspiel vor, als er eines Tages, im April 1995, aufhörte zu essen. Vielleicht hatte er Schluckbeschwerden, vielleicht hatte er auch mit den letzten Fasern seines Willens beschlossen, seiner ungewollten zweiten Kindheit ein Ende zu setzen.
Als ich hinflog, war sein diastolischer Blutdruck bei 70. Wieder brachte meine Mutter mich vom Flughafen direkt zum Pflegeheim. Er lag unter einer dünnen Decke zusammengekauert auf der Seite, flach atmend, die Augen nicht ganz geschlossen. Seine Muskulatur hatte sich zurückgebildet, aber sein Gesicht war glatt und entspannt und beinahe vollkommen faltenfrei, und seine Hände, die sich überhaupt nicht verändert hatten, wirktenim Vergleich zum Rest von ihm eigentümlich groß. Schwer zu sagen, ob er meine Stimme erkannte, doch binnen Minuten nach meinem Eintreffen stieg sein Blutdruck auf 120 zu 90. Ich hatte damals die Sorge und habe sie noch heute, dass mein Kommen für ihn alles verschlimmerte: dass er den Punkt erreicht hatte, an dem er bereit war zu sterben, sich jedoch schämte, etwas so Privates oder Enttäuschendes vor einem seiner Söhne zu vollziehen.
Meine Mutter und ich richteten uns in einem Rhythmus aus Wachen und Warten ein; einer schlief, während der andere bei ihm saß. Stunde um Stunde lag mein Vater reglos da und arbeitete sich an den Tod heran, doch wenn er gähnte, war es
sein
Gähnen. Und auch sein Körper war, wie zurückgebildet auch immer, noch strahlend
seiner
. Selbst als die verbleibenden Teile seines Ichs noch kleiner und fragmentierter wurden, betrachtete ich ihn weiterhin hartnäckig als ein Ganzes. Noch immer liebte ich, ganz spezifisch und individuell, den Mann, der da in dem Bett gähnte. Und wie konnte ich aus dieser Liebe nicht Geschichten bilden – Geschichten eines Mannes, dessen Wille intakt genug geblieben war, dass er das Gesicht wegdrehte, wenn ich versuchte, ihm den Mund mit einem feuchten Lappen abzuwischen? Noch auf meinem Totenbett werde ich darauf beharren, dass mein Vater entschlossen war, so gut er konnte und auf seine eigene Weise zu sterben.
Wir wiederum waren entschlossen, dafür zu sorgen, dass er nicht allein war, wenn er starb. Vielleicht war genau das falsch, vielleicht wartete er nur darauf, allein gelassen zu werden. Wie auch immer, in der sechsten Nacht nach meiner Ankunft blieb ich wach und las einen seichten Roman von vorn bis hinten durch, während er dalag und atmete und immerzu tief gähnte. Eine Pflegerin kam, horchte seine Lunge ab und sagte, er habe wohl nie geraucht. Sie meinte, ich solle nach Hause gehen und mich schlafen legen, und bot an, eine bestimmte Pflegerin vom Stockwerk darunter heraufzuschicken, damit sie nach ihm sah.Offensichtlich verfügte das Pflegeheim über einen
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