Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
Vom Netzwerk:
hauseigenen Todesengel mit der besonderen Gabe, die Beinahe-Toten, nachdem deren Verwandte abends gegangen waren, davon zu überzeugen, dass es nun in Ordnung sei zu sterben. Ich lehnte das Angebot der Pflegerin ab und erwies ihm diesen Dienst selbst. Ich beugte mich über meinen Vater, der schwach nach Essigsäure roch, ansonsten aber sauber und warm war. Ich sagte ihm, wen er vor sich habe und dass mir alles recht sei, was er nun tun müsse, er solle nur loslassen und es tun.
    Am späten Nachmittag kam ein starker, für St.   Louis typischer Frühsommerwind auf. Ich machte mir gerade Rührei, als meine Mutter aus dem Pflegeheim anrief und sagte, ich solle schnell kommen. Ich weiß nicht, warum ich dachte, ich hätte jede Menge Zeit, aber bevor ich ging, aß ich noch die Eier mit Toast, und auf dem Parkplatz des Heims blieb ich eine Weile im Auto sitzen und drehte das Radio auf, weil gerade ein Song von Blues Traveler lief, zu der Zeit der große Hit. Kein Song hat mich je glücklicher sein lassen. Die großen Weißeichen, die das Heim umstanden, wiegten sich in dem starken Wind und wurden fahl. Mir war, als könnte ich vor Glück davonfliegen.
    Und noch immer starb er nicht. Der Sturm erreichte das Pflegeheim am Abend und löschte alle Lichter bis auf die Notbeleuchtung, sodass meine Mutter und ich im Dunkeln saßen. Ungern erinnere ich mich, wie ungeduldig ich darauf wartete, dass die Atmung meines Vaters aufhörte, wie bereit ich war, endlich befreit von ihm zu sein. Ungern stelle ich mir vor, was er wohl empfand, als er so dalag, welche schwachen oder lebhaften sensorischen oder emotionalen Formen sein Todeskampf in seinem Kopf annahm. Aber ebenso ungern glaube ich, dass in seinem Kopf rein gar nichts vorging.
    Gegen zehn Uhr, das Licht war gerade erst wieder angegangen und meine Mutter und ich berieten uns mit einer Pflegerin in der Tür seines Zimmers, sah ich, dass er die Hände an den Halsführte. Ich sagte: «Ich glaube, da passiert was.» Es war ein Todesröcheln: Sein Kinn hob sich, damit Luft in die Lunge strömte, nachdem sein Herz aufgehört hatte zu schlagen. Er schien sehr langsam und mit tiefer Zustimmung zu nicken. Und dann nichts mehr.
    Nachdem wir ihm einen Abschiedskuss gegeben und die Formulare unterschrieben hatten, die zur Gehirnautopsie bevollmächtigten, nachdem wir durch überflutete Straßen gefahren waren, setzte sich meine Mutter in unsere Küche und nahm, untypisch für sie, den Jack Daniel’s pur, den ich ihr anbot, an. «Jetzt weiß ich es», sagte sie, «wenn man tot ist, ist man richtig tot.» Das war nur zu wahr. Aber wegen des Zeitlupentempos, in dem Alzheimer voranschreitet, war mein Vater nicht viel toter als zwei Stunden, zwei Wochen oder zwei Monate davor. Wir hatten einfach den letzten der Teile verloren, aus denen wir ein lebendes Ganzes formen konnten. Es würde keine neuen Erinnerungen an ihn mehr geben. Die einzigen Geschichten, die sich nun erzählen ließen, waren die, die wir schon kannten.
     
    (2001)

Riesenschlafzimmer
    P rivatsphäre, Privatsphäre, die neue amerikanische Obsession: verfochten als das fundamentalste aller Rechte, vermarktet als das erstrebenswerteste aller Güter und zweimal wöchentlich totgesagt.
    Noch bevor Linda Tripp, Arbeitskollegin von Monica Lewinsky, die «Aufnahme»-Taste ihres Anrufbeantworters drückte, warnten uns Kommentatoren, «die Privatsphäre ist im Belagerungszustand», «es steht schlimm um die Privatsphäre», «die Privatsphäre, wie wir sie kennen, könnte es im Jahr 2000 nicht mehr geben». Sie sagen, sowohl Big Brother als auch sein kleiner Bruder, John Q.   Public, beschatten mich mit Hilfe von Computernetzwerken. Sie machen mir weis, dass Sicherheitskameras, nicht größer als Spinnen, aus jeder dunklen Ecke blicken, dass verbiesterte Feministinnen Schlafzimmerverhalten und Klatsch überwachen, dass Gen-Detektive im Dienste der Verbrechensbekämpfung in der Lage sind, meine gesamte Persönlichkeit aus einem Speicheltröpfchen herauszusieden, und dass Voyeure gewöhnliche Camcorder mit einem Filter nachrüsten können, der sie befähigt, Leuten
durch die Kleidung hindurchzusehen
. Und schon kommt die Schmutzwasserflut aus dem Büro des Sonderermittlers Kenneth Starr, die durch die offiziellen und kommerziellen Kanäle schwappt und in das nationale Bewusstsein sickert. Der Skandal um Monica Lewinsky markiert, in den Worten des Philosophen Thomas Nagel, «den Höhepunkt einer desaströsen Erosion» der Privatsphäre; in

Weitere Kostenlose Bücher