Anleitung zum Alleinsein
den Worten der Autorin Wendy Kaminer ist er Ausdruck «der äußersten Missachtung von Privatsphäre und individueller Autonomie, wie sie in totalitären Regimen üblich ist». Verkörpert in der Person Kenneth Starrs, hat die «öffentliche» Sphäre die «private» endgültig überwältigt –in Stücke gerissen, durchbohrt, niedergetrampelt, besetzt, rücksichtslos überrollt.
Die ganze Aufregung um die Privatsphäre ist nicht frei von den Schuldzuweisungen und der Paranoia der guten alten amerikanischen Hysterie, aber eine wesentliche Zutat fehlt: eine ernstlich alarmierte Öffentlichkeit. U S-Amerikaner interessieren sich für die Privatsphäre nur abstrakt. Manchmal tut sich eine hinreichend informierte Bürgerschar zusammen, um sich zu wehren, etwa als Internet-Benutzer während der sogenannten Clipper-Chip-Debatte über staatliche Zugriffsmöglichkeiten auf verschlüsselte Datenkommunikation das Weiße Haus mit E-Mails bombardierten, und manchmal führt eine besonders empörende Nachricht zu einem nationalen Aufschrei, etwa als die Lotus Development Corporation eine CD-ROM mit Informationen zu den finanziellen Verhältnissen nahezu der Hälfte der Bevölkerung auf den Markt bringen wollte. Aber im Großen und Ganzen bleiben die Amerikaner, selbst angesichts massiver Einschnitte wie bei der Drogenbekämpfung, seltsam passiv. Ich bin da keine Ausnahme. Ich lese die Kommentare und versuche, mich aufzuregen, doch es geht nicht. Meistens stelle ich fest, dass ich das Gegenteil dessen empfinde, was die Privatsphären-Gurus von mir erwarten. Allein im letzten Monat ist das zweimal passiert.
An dem Samstagmorgen, an dem die
New York Times
den vollständigen Text des Starr-Berichts brachte, hatte ich, als ich da allein in meiner Wohnung saß und zu frühstücken versuchte, das Gefühl, dass nicht Clintons und auch nicht Lewinskys Privatsphäre verletzt wurde, sondern meine. Ich mag das ferne Schauspiel öffentlichen Lebens. Das Schauspiel und auch die Ferne. Nun sah ein Präsident seiner Amtsenthebung entgegen, und als guter Bürger hatte ich die Pflicht, mich über die Beweislage auf dem Laufenden zu halten, doch in diesem Fall bestanden die Beweise aus Gefummel, Gelutsche und wechselseitigem Selbstbetrug zweier Menschen. Was ich mit dieser Beweislage nebenToast und Kaffee empfand, war kein vorgeschützter Abscheu, um ein heimliches Interesse am Schlüpfrigen zu tarnen; an dem Sex als solchem nahm ich keinen Anstoß; eine mögliche künftige Aushöhlung meiner Rechte machte mir kein Kopfzerbrechen; die Sorgen des Präsidenten teilte ich nicht in der emphatischen Weise, in der meine zu teilen er einmal behauptet hatte; die Enthüllung, dass öffentliche Amtsträger schlechte Dinge tun, stieß mich nicht ab; und obwohl ich Mitglied der Demokraten bin, war meine Empörung von anderer Art als meine Empörung darüber, dass die New York Giants, zu deren Fans ich mich zähle, die Möglichkeit, im vierten Viertel in Führung zu gehen, vergeigt hatten. Was ich empfand, empfand ich als Privatperson. Ich fühlte mich belästigt.
Ein paar Tage später bekam ich einen Anruf von einer meiner Kreditkartenfirmen, die mich bat, zwei kürzlich erfolgte Zahlungen an einer Tankstelle und eine in einem Baumarkt zu bestätigen. Heutzutage sind derlei Anfragen üblich, das aber war für mich die erste dieser Art, und einen Augenblick lang fühlte ich mich auf unheimliche Weise bloßgestellt. Gleichzeitig fühlte ich mich seltsam geschmeichelt, weil sich irgendjemand irgendwo für mich interessierte und sich die Mühe machte anzurufen. Nicht dass dem jungen Telefonisten etwas an mir persönlich gelegen hätte. Es klang, als läse er, was er sagte, aus einer laminierten Broschüre ab. Die Anstrengung, in einem Beruf hart arbeiten zu müssen, der ihm mit ziemlicher Sicherheit keinen Spaß machte, schien ihm die Zunge zu lähmen. Er versuchte, die Wörter herauszusprudeln, sie wie aus Verlegenheit oder Ärger darüber, wie wertlos sie im Grunde waren, schnell dahinzuhaspeln, doch immer wieder ballten sie sich zwischen seinen Zähnen, sodass er innehalten und sie, eines nach dem anderen, mit den Lippen nach draußen befördern musste. Es sei der Rechner, sagte er, der Rechner, der routinemäßig, äh, den Verwendungszweck der, na ja, der Belastungen erfasse …und ob er mir heute Abend noch mit etwas anderem behilflich sein könne. Ich beschloss, es in Ordnung zu finden, wenn dieser junge Mensch durch meine Zahlungen scrollen und über
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