Anleitung zum Alleinsein
und
Time
war für meinen Vater in Sachen Kultur die Autorität schlechthin. In den vergangenen zehn Jahren hat das Magazin, dessen roter Rand zweimal das Gesicht von James Joyce umrahmte, Porträts von Scott Turow und Stephen King auf dem Titelblatt gehabt. Das sind ehrbare Autoren, aber niemand bezweifelt, dass sie nur ihrer fetten Verträge wegen auf dem Cover waren. Heute ist der Dollar der Maßstab kultureller Autorität, und ein Presseerzeugnis wie die
Time
, die vor nicht allzu langer Zeit noch den Anspruch hatte, den Geschmack des ganzen Landes zu prägen, hat heute im Großen und Ganzen die Funktion, ihn abzubilden.
Das literarische Amerika, in dem ich mich nach der Veröffentlichung der
27sten Stadt
wiederfand, hatte eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem St. Louis meiner Jugend: einer einstmals bedeutenden Stadt, die durch die Abwanderung weißer Bevölkerungsteile und den Bau von Superhighways ausgehöhlt und lahmgelegt worden war. Rings um den daniederliegenden Stadtkern anspruchsvoller Literatur gab es blühende neue Vorstädte der Massenunterhaltung. Reste der alten Lebendigkeit des Zentrums konzentrierten sich nun in den schwarzen, hispanischen, asiatischen, schwulen und frauenbewegten Gemeinschaften, die die Strukturen der abwandernden weißen, heterosexuellen und männlich bestimmten Kultur übernommen hatten.
Master of Fine Arts-
Programme boten den Geringbeschäftigten Wohnungen und öffentlich geförderte Arbeit an, ein paar ausgeflippte, ins Stadtleben vernarrte Künstler hausten noch in alten Lagerhäusern, und unternehmungslustige Literaturfreunde konntenbei sich zu Hause weiterhin bestimmten gutbewachten Kulturdenkmälern Wochenendbesuche abstatten – dem Tempel Toni Morrisons, dem Orchester John Updikes, dem Faulkner-Haus, dem Wharton-Museum und dem Mark-Twain-Park.
Anfang der neunziger Jahre lag ich ebenso danieder wie der Stadtkern der Literatur. Mein zweiter Roman,
Schweres Beben
, war die lange, komplizierte Geschichte einer in einer Welt der moralischen Umbrüche lebenden Familie aus dem Mittleren Westen, und statt meine Bomben wieder in einem mit Ironie und Understatement wattierten Umschlag zu verschicken, wie ich es in
Die 27ste Stadt
getan hatte, warf ich nun rhetorische Molotowcocktails. Doch das Ergebnis war dasselbe: erneut ein Zeugnis mit Einsen und Zweien von den Rezensenten, die an die Stelle der Lehrer getreten waren, deren Lob ich in früheren Jahren ebenso gesucht wie als unbefriedigend abgetan hatte, dazu ordentlich Geld und die Grabesstille der Bedeutungslosigkeit. Unterdessen waren meine Frau und ich in Philadelphia wieder zusammengekommen. Zwei Jahre lang waren wir, auf der Suche nach einer schönen, erschwinglichen Bleibe, in der wir uns nicht als Fremde fühlten, in drei Zeitzonen herumgesprungen. Nach diesem erschöpfenden Hin und Her hatten wir schließlich ein zu teures Haus in einer ebenfalls daniederliegenden Stadt gemietet. Dass es uns dann weiter schlechtging, schien ohne jeden Zweifel zu bestätigen, dass es für Schriftsteller auf der Welt eben
keinen
Ort gab.
In Philadelphia begann ich, wenig hilfreiche Berechnungen anzustellen, indem ich die Anzahl der Bücher, die ich im Jahr davor gelesen hatte, mit der Anzahl der Jahre multiplizierte, die ich voraussichtlich noch leben würde, und das dreistellige Resultat weniger als einen Hinweis auf die Sterblichkeit verstand (obwohl mich die Erkenntnisse an dieser Front nicht gerade aufheiterten) denn als ein Maß für die Unvereinbarkeit der langsamen Lesearbeit mit der Hyperkinese modernen Lebens. Plötzlich schien es mir, als entschuldigten sich die Freunde, die früher gern gelesenhatten, nicht einmal mehr dafür, damit aufgehört zu haben. Eine junge Bekannte, die Englisch im Hauptfach studiert hatte, antwortete auf meine Frage, was sie gerade lese: «Du meinst,
linear
? Also von vorn bis hinten?»
Literatur und Markt hatten noch nie viel füreinander übrig. Die Konsumwirtschaft will Produkte, die hoch im Kurs stehen, sich schnell abnutzen oder für regelmäßige Verbesserungen geeignet sind und mit jeder Verbesserung einen marginalen Zuwachs an Nutzen bringen. Für eine solche Wirtschaft ist etwas Neues, das etwas Neues bleibt, nicht nur ein minderwertiges Produkt; es ist ein
antithetisches
Produkt. Ein Klassiker der Literatur ist preiswert, unbegrenzt wiederverwendbar und, was das Schlimmste ist, nicht zu verbessern.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte sich die amerikanische Volkswirtschaft
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