Anleitung zum Alleinsein
weit tiefer begründet als durch die Verdrängung des Imaginierten durch das Faktische. Flannery O’Connor, die um dieselbe Zeit schrieb, als Roth seine Bemerkungen machte, betonte in
Mystery and Manners
, das «Geschäft der Literatur» sei es, «Mysterien durch Gewohnheiten auszudrücken». Wie die Poetik, die Poe von seinem «Raben» ableitete, schmeichelt O’Connors These vor allem ihrem eigenen Werk, trotzdem besteht kaum ein Zweifel, dass «Mysterien» . (wie sich der Mensch dem Sinn des Daseins entzieht oder stellt) und «Gewohnheiten» . (die grundlegenden Mechanismen menschlichen Verhaltens) schon immer die primären Themen eines Schriftstellers waren. Was den Autor von Romanen heute mit Schrecken erfüllt, ist die Erkenntnis, dass der Technologie-Konsumismus, der unsere Welt beherrscht, speziell darauf abzielt, diesen beiden Themen die Grundlage zu nehmen.
O’Connors Antwort auf das Problem, das Roth formulierte, nämlich dass es in der nationalen Medienlandschaft wenig gebe, das Romanautoren als ihr
eigenes
betrachten könnten, bestand in dem Verweis darauf, dass die beste amerikanische Literatur immer die regionale gewesen sei. Das war insofern etwas ungeschickt, als ihr Idol der kosmopolitische Henry James war. Was sie jedoch meinte, war, dass die Literatur vom Besonderen lebt und dass die Gewohnheiten in einer bestimmten Region schon immer besonders fruchtbaren Boden für diejenigen boten, die sie beschrieben.
An der Oberfläche zumindest floriert der Regionalismus nach wie vor. An Universitäten ist es heutzutage sogar «in» zu behaupten, es gebe kein Amerika mehr, sondern nur Amerikas, und dass das Einzige, was eine schwarze, lesbische New Yorkerin und einen Baptisten aus Georgia noch verbinde, die englische Sprache und die Veranlagung zur Einkommenssteuer seien.Wahrscheinlicher aber ist, dass die Frau aus New York und der Mann aus Georgia jeden Abend die
Letterman -Show
sehen, sich beide damit herumschlagen, für sich eine Krankenversicherung zu finden, beide einen Job haben, der durch die Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland bedroht ist, beide in Discountmärkte gehen, um für ihre Kinder
Pocahontas -Artikel
zu kaufen, beide von der Fernsehwerbung in den Zynismus getrieben werden, beide Lotto spielen, beide von einer Viertelstunde Ruhm träumen, beide gegen ihre Depressionen einen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer schlucken und beide in Uma Thurman verknallt sind und deswegen ein schlechtes Gewissen haben. Die Welt der Gegenwart ist so beschaffen, dass die ergiebigen Nebendramen lokaler Gewohnheiten von einem einzigen Hauptdrama ersetzt wurden, dem Drama nämlich, dass das regional Spezifische einem kommerziellen Einerlei erliegt. Der amerikanische Autor hat es heute mit einem kulturellen Totalitarismus zu tun, analog dem politischen Totalitarismus, mit dem zwei Generationen von Ostblockautoren zu kämpfen hatten. Das zu ignorieren birgt das Risiko, der Nostalgie zu frönen. Dagegen anzugehen aber bringt die Gefahr mit sich, eine Literatur zu schreiben, die auf ein und derselben These endlos herumreitet: der Technologie-Konsumismus ist eine Höllenmaschine, der Technologie-Konsumismus ist eine Höllenmaschine …
Ebenso entmutigend ist das Schicksal der «Gewohnheiten» im allgemeineren Sinn des Wortes. Grobheit, Verantwortungslosigkeit, Doppelzüngigkeit und Dummheit sind Eigenheiten tatsächlicher menschlicher Interaktion: der Stoff von Gesprächen, die Ursache schlafloser Nächte. Doch in der Welt der Konsumwerbung und der Konsumkäufe ist das Böse nie etwas Moralisches. Böse sind hohe Preise, Unbequemlichkeit, mangelnde Auswahl, das Fehlen von Privatsphäre, Sodbrennen, Haarausfall, rutschige Straßen. Das ist nicht weiter überraschend, da die einzigen Probleme, für deren Lösung es zu werben lohnt, Probleme sind, diesich durch Geldausgeben beheben lassen. Gegen das Problem schlechter Gewohnheiten aber kann kein Geld an – den Dauerquassler im abgedunkelten Kino, die gönnerhafte Schwägerin, den egoistischen Bettgefährten –, es sei denn dadurch, dass Geld einem Zuflucht in eine atomisierte Privatsphäre gewährt. Und eine solche Privatsphäre ist genau das, worauf das Amerikanische Jahrhundert hinausläuft. Erst gab es die massenhafte Abwanderung in die Vorstädte, dann die Perfektionierung der Unterhaltungsmöglichkeiten zu Hause und schließlich die Schaffung virtueller Gemeinschaften, deren markanteste Eigenheit darin besteht, dass die Interaktion in diesem Rahmen vollkommen
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