Anleitung zum Alleinsein
freiwillig ist – in dem Augenblick beendbar, in dem das dort Erlebte den Chatter nicht mehr zufriedenstellt.
Dass all diese Tendenzen infantilisieren, ist schon vielerorts beschrieben worden. Seltener bemerkt wurde, in welcher Art und Weise sie sowohl unsere Ansprüche an Unterhaltung verändern (das Buch muss dem Leser etwas geben, nicht der Leser dem Buch) als auch den Inhalt dessen, was uns unterhalten soll. Das Problem für den Schriftsteller ist nicht einfach nur, dass der Durchschnittsmann oder die Durchschnittsfrau von Angesicht zu Angesicht so wenig Zeit mit seinen beziehungsweise ihren Mitmenschen verbringt; schließlich gibt es eine reiche Tradition des Briefromans, und Robinson Crusoes Lebensumstände ähneln der Vereinzelung des vorstädtischen Singles von heute immer mehr. Das eigentliche Problem ist, dass das gesamte Leben des Durchschnittsmannes oder der Durchschnittsfrau zunehmend auf eine Vermeidung derjenigen Konflikte hin angelegt ist, von denen die Literatur, die sich ja vor allem mit Gewohnheiten beschäftigt, immer gezehrt hat.
Hier nun haben wir es wirklich mit etwas zu tun, was auf das Veralten aller anspruchsvollen Künste hindeutet. Stellen wir uns vor, das menschliche Dasein ist durch einen Schmerz definiert: den Schmerz, dass wir, jeder Einzelne, nicht der Mittelpunkt desUniversums sind und dass unsere Wünsche immerzu die Mittel übersteigen, sie zu erfüllen. Wenn wir in Religion und Kunst die seit eh und je gängigsten Methoden sehen, mit diesem Schmerz zurechtzukommen, was wird dann, wenn unsere technischen und ökonomischen Systeme und sogar unsere kommerzialisierten Religionen so verfeinert werden, dass sie jeden von uns zum Mittelpunkt seines eigenen Universums aus Wahlmöglichkeiten und Erfüllungen werden lassen, aus der Kunst? Die Antwort der Literatur auf den Stachel schlechter Gewohnheiten ist, sie ins Lächerliche zu ziehen. Der Leser lacht mit dem Autor, fühlt sich mit dem Stachel weniger allein. Das ist ein heikles Verfahren, und es erfordert einiges an Arbeit. Aber wie kann die Literatur mit einem System konkurrieren – schauen Sie erst aufs Display, bevor Sie einen Anruf entgegennehmen; gehen Sie per Modem aus; verschaffen Sie sich das Geld, um ausschließlich in jener privatisierten Welt verkehren zu können, in der Arbeitnehmer, wollen sie ihre Stelle nicht verlieren, höflich sein müssen –, das einem den Stachel schon von vornherein erspart?
Auf lange Sicht wird der Zusammenbruch des Kommunitarismus wohl alle möglichen hässlichen Folgen haben. Auf kurze Sicht jedoch, in diesem Jahrhundert ungeheurer Prosperität und Gesundheit, fordert er von den alten Methoden, mit diesem Schmerz zurechtzukommen, in hohem Maß Tribut. Empfindet einer Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Verlust – Empfindungen, die die gesellschaftliche Atomisierung hervorrufen mag und die unter O’Connors Oberbegriff Mysterien zusammengefasst werden können –, genügt es schon, das als Krankheit abzustempeln. Eine Krankheit hat Ursachen: eine anormale Gehirnchemie, sexuellen Missbrauch in der Kindheit, Staatskneteschnorren, das Patriarchat, gesellschaftliche Dysfunktion. Sie hat auch Heilmittel: Antidepressiva wie Zoloft, Traumatherapie, den republikanischen «Contract with America» zur moralischen Erneuerung des Kongresses, Multikulturalismus, das World Wide Web. Selbsteine Teilbehandlung oder eine endlose Abfolge von Teilbehandlungen, die nichts bewirken, oder auch nur der Trost, der darin liegt zu wissen, dass man eine Krankheit hat – alles ist besser als ein Mysterium. Die Wissenschaft hat das Mysterium der Religion schon seit langem im Visier. Aber erst als die angewandte Wissenschaft in Gestalt der Technologie sowohl die Nachfrage nach Literatur als auch den gesellschaftlichen Kontext veränderte, in dem Literatur geschrieben wird, bekamen wir Schriftsteller die Folgen deutlich zu spüren.
Selbst jetzt, selbst wenn ich meine Hoffnungslosigkeit vorsichtig in der Vergangenheitsform formuliere, fällt es mir schwer, mich zu all diesen Zweifeln zu bekennen. In Verlagskreisen werden Bekenntnisse zu Zweifeln weithin als «Gejammer» angesehen – womit gemeint ist, dass Kulturelles betreffende Klagen von Autoren, deren Bücher sich nicht verkaufen, erbärmlich und selbstsüchtig sind, jene von Autoren, deren Bücher sich verkaufen, dagegen etwas Unhöfliches haben. Für Menschen, die ihre Privatsphäre so sehr schützen und so überaus konkurrenzbewusst sind wie Autoren,
Weitere Kostenlose Bücher