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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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muss durch Arbeitsethos
und
weise Nutzung der Mußezeit Rechenschaft über sich ablegen können.» In den hundert Jahren nach dem Bürgerkrieg gab es im Mittleren Westen Tausende kleinstädtischer Literaturgesellschaften, in denen, wie Heath herausfand, die Frau eines Hausmeisters ebenso aktiv war wie eine Arztgattin.
    Doch ein lesender Elternteil genügt nicht, um einen lebenslang begierig Lesenden hervorzubringen. Heath zufolge müssen junge Leser auch einen Menschen finden, mit dem sie ihr Interesse teilen können. «Ein Kind, das sich das Lesen angewöhnt, wird zunächst unter der Decke mit einer Taschenlampe lesen», sagte sie. «Wenn die Eltern klug sind, verbieten sie es dem Kind und ermuntern es so dazu. Oder es tun sich zwei Leseratten zusammen, und diese beiden halten das vor anderen geheim. Lesefreundschaften kann man aber auch noch am College schließen. Besonders an der Highschool wird man dafür, Leser zu sein, sozial geächtet. Viele, die als Kinder ohne Austausch gelesen haben, kommen ans College und entdecken auf einmal: ‹Wahnsinn, hier gibt’s ja auch noch andere, die lesen.›»
    Während Heath ihre Funde vor mir ausbreitete, erinnerte ich mich, wie sehr ich mich gefreut hatte, in der Unterstufe zwei Freunde zu finden, mit denen ich über J.   R.   R.   Tolkien sprechen konnte. Außerdem ging mir durch den Kopf, dass es für mich heute nichts Anziehenderes gibt als eine Frau, die liest. Aber dann fiel mir auf, dass ich Heaths erste Voraussetzung gar nicht erfüllte. Ich sagte ihr, ich könne mich nicht erinnern, dass in meiner Kindheit auch nur einer meiner Eltern je ein Buch gelesen habe, es sei denn beim Vorlesen.
    Ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, antworteteHeath: «Ja, da gibt es doch noch die zweite Art von Leser. Das sind die sozial Isolierten   – Kinder, die sich schon im frühen Alter ganz anders vorkommen als alle anderen um sie herum. Das in einem Interview herauszufinden ist sehr, sehr schwierig. Keiner gibt gern zu, dass er als Kind sozial im Abseits stand. So jemand überträgt das Gefühl, anders zu sein, in eine Phantasiewelt. Diese Welt aber ist eine Welt, die man mit keinem teilen kann – weil sie ja phantasiert ist. Daher ist für so jemanden der wichtigste Dialog der mit den
Autoren
der Bücher, die er liest. Auch wenn sie nicht da sind, werden sie zur Gemeinschaft.»
    Der Stolz zwingt mich an dieser Stelle, einen Unterschied zwischen jungen Literaturlesern und jungen Nerds zu machen. Der klassische Nerd, der sich in Fakten, Technik oder Zahlen einrichtet, zeichnet sich nicht durch eine übertragene Geselligkeit, sondern eine
Anti-
Geselligkeit aus. Natürlich, Lesen ähnelt nerdigen Beschäftigungen darin, dass es eine Angewohnheit ist, die von einem Gefühl der Isolation lebt und es noch verstärkt. Doch als Kind «sozial isoliert» zu sein verdammt einen nicht automatisch zu Mundgeruch und ungeschicktem Partyverhalten als Erwachsener. Tatsächlich kann es einen sogar hypersozial werden lassen. Nur verspürt man eben an einem bestimmten Punkt ein nagendes, beinahe reumütiges Bedürfnis, allein zu sein und zu lesen – die Verbindung zu dieser anderen Gemeinschaft wiederherzustellen.
    Heath zufolge ist unter Lesern des sozial isolierten Typus (sie nennt sie auch «Resistenz»-Leser) die Wahrscheinlichkeit, Schriftsteller zu werden, viel größer als bei denen des Vorpräge-Typus. Wenn das Kommunikationsmedium in der Kindheit Literatur war, liegt es nahe, dass man als erwachsener Literat Literatur für sein Verbundenheitsgefühl weiterhin als wesentlich erachtet. Was als antisoziales Naturell «bedeutender» Autoren wahrgenommen wird, sei es nun das Exilantentum von James Joyce oder J.   D.   Salingers Einsiedlertum, lässt sich in hohem Maße auf die sozialeIsolation zurückführen, die nötig ist, um eine Phantasiewelt zu bewohnen. Heath blickte mir in die Augen und sagte: «Sie sind ein sozial isoliertes Individuum, das verzweifelt mit einer überzeugenden Phantasiewelt kommunizieren will.»
    Ich wusste, dass sie mich trotz der Anrede «Sie» eigentlich nicht persönlich meinte. Dennoch war mir, als blickte sie mir tief in die Seele. Und das Hochgefühl, das mich überkam, als sie mich mit unpoetischen Polysyllaba beiläufig beschrieb, war für mich die Bestätigung, dass diese Beschreibung zutraf. Ganz einfach als das erkannt zu werden, was ich war, ganz einfach nicht missverstanden zu werden: das hatte sich mir mit einem Mal als Grund enthüllt, warum

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