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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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enthält garantiert in jeder Ausgabe Variationen über drei Kurzgeschichtenthemen: «Meine interessante Kindheit», «Mein interessantes Leben in einer College-Stadt» und «Mein interessantes Jahr im Ausland». An Hochschulen lehrende Schriftsteller haben die wichtige Funktion, Literatur um ihrer selbst willen zu unterrichten, und manche bringen während des Semesters auch gute eigene Arbeiten hervor, doch als Leser denke ich wehmütig an die Zeit zurück, als noch mehr Schriftsteller in Großstädten gelebt und gearbeitet haben. Ich beklage den Rückzug ins Ich und den Niedergang des Großleinwandromans aus demselben Grund, aus dem ich den Aufstieg der Vorstädte beklage: Ich mag es, wenn sich maximale Vielfaltund maximale Kontraste in einem einzigen erregenden Erlebnisrahmen drängen. Obwohl die Sozialreportage heute weniger der ausdrückliche Zweck eines Romans als vielmehr ein zufälliges Nebenprodukt ist – Shirley Heaths Beobachtungen bestätigen, dass anspruchsvolle Leser nicht um der Belehrung willen lesen   –, mag ich Romane, die lebendig und vielseitig sind wie eine Stadt.
     
    Der Wert von Shirley Heaths Arbeit und der Grund, warum ich sie so ausführlich zitiere, ist, dass sie sich der Mühe unterzogen hat, etwas empirisch zu untersuchen, was noch niemand untersucht hat, und dass sie das Problem des Lesens mit einem Vokabular beschreibt, das neutral genug ist, um in unserem wertfreien Kulturmilieu zu bestehen. Leser sind nicht «besser» oder «gesünder» oder, umgekehrt, «kränker» als Nichtleser. Wir gehören nur zufällig einer ziemlich seltsamen Gemeinschaft an.
    Für Heath ist ein kennzeichnendes Merkmal von «substantiellen Werken der Literatur» die
Unvorhersehbarkeit
. Zu dieser Definition gelangte sie, nachdem sie herausgefunden hatte, dass die meisten der anspruchsvollen Leser, die sie interviewte, es waren Hunderte, auf die eine oder andere Weise in ihrem Leben mit Unvorhergesehenem zurechtkommen mussten. Therapeuten und Geistliche, die sich Menschen mit Problemen annehmen, neigen zur Lektüre schwerer Kost. Ebenso diejenigen, deren Leben nicht den Weg genommen hat, der ihnen zugedacht war: Koreaner aus der Händlerkaste, die keine Händler geworden sind, Ghetto-Jugendliche, die aufs College gehen, sich offen zu ihrem Schwulsein bekennende Männer aus konservativen Familien, Frauen, deren Leben vollkommen anders verläuft als das ihrer Mütter. Diese letzte Gruppe ist besonders groß. Heute gibt es Millionen von Amerikanerinnen, deren Leben dem, das sie sichnach dem Vorbild ihrer Mütter vermutlich für sich ausgemalt haben, in keiner Weise ähnelt, und alle sind sie nach Heaths Theorie potenziell empfänglich für substantielle Literatur.
    Bei ihren Interviews stellte Heath die «weitgehende Übereinstimmung» unter anspruchsvollen Lesern fest, dass Literatur «‹einen besseren Menschen aus mir macht›». Sie beeilte sich, mir zu versichern, dass anspruchsvolle Literatur die Menschen keineswegs nach Art von Lebenshilfe geradebiegt, sondern vielmehr «so auf ihre jeweiligen Lebensumstände einwirkt, dass sich die Leser mit ihnen auseinandersetzen müssen. Und indem sie sich mit ihnen auseinandersetzen, erleben sie sich als immer komplexer und besser in der Lage, mit ihrer Unfähigkeit, ein völlig vorhersehbares Leben zu führen, klarzukommen.» Wieder und wieder sagten ihr Leser das Gleiche: «Durch Lesen bewahre ich mir einen Sinn für etwas
Substantielles
– meine ethische Ganzheit, meine intellektuelle Ganzheit. ‹Substanz› ist mehr als ‹dieses gewichtige Buch›. Das Buch da zu lesen gibt
mir
Substanz.» Diese Substanz, fügte Heath hinzu, werde am häufigsten durch Sprache übermittelt und als etwas Bleibendes aufgefasst. «Und deshalb», sagte sie, «bieten Computer das einem Leser nicht.»
    Nahezu übereinstimmend beschrieben Heaths Gesprächspartner substantielle Werke der Literatur als, wie sie sagte, «einzigen Raum, in dem für den gemeinen Bürger Hoffnung besteht, die ethischen, philosophischen und soziopolitischen Dimensionen des Lebens, die überall sonst so vereinfachend dargestellt werden, in den Griff zu kriegen. Beispielsweise müssen wir uns seit Agamemnon mit einem Loyalitätskonflikt zwischen Familie und Staat auseinandersetzen. Und gute literarische Werke sind solche, die sich weigern, einfache Antworten auf diesen Konflikt zu geben, Dinge schwarz-weiß zu malen, die Guten gegen die Bösen zu stellen. Sie sind all das, was die Pop-Psychologie nicht

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