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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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ist.»
    «Auch Religionen sind gewissermaßen substantielle Werke der Literatur», sagte ich.
    Sie nickte. «Genau das sagen die Leser: Gute Literatur zu lesen sei, als lese man einen besonders dichten Abschnitt eines religiösen Texts. Religion und guter Literatur ist gemein, dass sie keine Antworten geben, dass in ihnen nichts abgeschlossen ist. Die Sprache literarischer Werke offenbart bei jedem neuen Lesen etwas anderes. Aber Unvorhersehbarkeit heißt keineswegs, dass alles relativ sei. Vielmehr ist sie Folge der Beharrlichkeit, mit der Schriftsteller immer wieder auf fundamentale Probleme zurückkommen. Familie versus Staat, Ehefrau versus Geliebte.»
    «Leben versus Sterbenmüssen», sagte ich.
    «Richtig», sagte Heath. «Natürlich hat die Unvorhersehbarkeit der Literatur auch etwas Vorhersehbares. Es ist das, was alle substantiellen Werke gemein haben. Und an
diese
Vorhersehbarkeit klammern sich, wie sie mir sagen, die Leser – an das Gefühl, in diesem großen menschlichen Unternehmen in Gesellschaft zu sein.»
    «Ein Freund von mir sagt unablässig, Lesen und Schreiben drehten sich letztlich um Alleinsein. Allmählich glaube ich das auch.»
    «Ums Nichtalleinsein, ja», sagte Heath, «aber auch darum, gar nicht erst an sich heranzulassen, dass es keinen Ausweg gibt – keinen Sinn des Daseins. Der Sinn liegt in der Kontinuität, im Fortbestehen der großen Konflikte.»
    Auf dem Rückflug von Palo Alto in einer erzwungenen Übergangszone, begleitet von Angehörigen der TW A-Belegschaft , die im Besitz des Unternehmens war, lehnte ich den Kopfhörer für den Film
Die Brady Family
und einen einstündigen Spezialausschnitt von
E!
ab, schaute dann aber trotzdem hin. Ohne Ton wurde der Ausschnitt von
E!
zu einer Enthüllung der Hydraulik falschen Lächelns. Er bescherte mir eine Epiphanie des Nichtauthentischen und weckte in mir den Appetit auf die ungezwungenen Emotionen einer Literatur, die nicht versucht, mir etwasanzudrehen. Auf meinem Schoß lag aufgeschlagen Janet Frames Roman über ein Irrenhaus,
Gesichter im Wasser
: keine schöntuerischen, dafür seltsam treffende Sätze, an denen mein Blick erst haften blieb, als der stumme Bildschirm vor mir nach zweieinhalb Stunden endlich schwarz wurde.
     
    Arme Noeline, die darauf wartete, dass Dr.   Howell ihr einen Antrag machte, obwohl die einzigen Worte, die er je an sie gerichtet hatte, die waren: Wie geht es Ihnen? Wissen Sie, wo Sie sind? Wissen Sie, warum Sie hier sind? – Sätze, die sich unter normalen Umständen schwerlich als Beweis von Zuneigung verstehen ließen. Doch wenn man krank ist, findet man sich auf einem neuen Wahrnehmungsfeld wieder, auf dem man eine Ernte von Interpretationen einbringt, die dann zum täglichen Brot werden, der einzigen Nahrung, die man hat. Sodass Noeline, als Dr.   Howell schließlich die Beschäftigungstherapeutin heiratete, auf die Station für Geistesgestörte verlegt wurde.
     
    Von einem Roman zu erwarten, dass er die Last unserer gesamten gestörten Gesellschaft trägt – dass er bei der Lösung unserer gegenwärtigen Probleme hilft   –, scheint mir ein spezifisch amerikanischer Irrglaube zu sein. Sätze von einer solchen Authentizität zu schreiben, dass man in ihnen Zuflucht finden kann: Reicht das denn nicht? Ist das nicht sehr viel?
     
    Vor gerade mal vierzig Jahren , als das Erscheinen von Hemingways
Der alte Mann und das Meer
ein nationales Ereignis war, galten Kino und Radio noch als «minderwertige» Unterhaltung. In den fünfziger und sechziger Jahren, als Kino zum «Film» wurde und als solcher ernst genommen werden wollte, wurde dasFernsehen zur neuen minderwertigen Unterhaltung. In den siebziger Jahren entwickelte sich, mit den Watergate-Anhörungen und der Sitcom
All in the Family
, auch das Fernsehen zu einem wesentlichen Bestandteil kulturellen Bildungsguts. Der gebildete New Yorker, der 1945 pro Jahr noch fünfundzwanzig anspruchsvolle Romane las, hat heute vielleicht noch Zeit für fünf. Da dem Romanpublikum die Leserschicht des Vorpräge-Typus wegbricht, ist das, was übrig bleibt, im Wesentlichen der harte Kern der Resistenzleser, die lesen, weil sie lesen müssen.
    Dieser harte Kern ist eine sehr kleine Kostbarkeit, die sich eine sehr große Anzahl tätiger Schriftsteller teilen muss. Um sich ein dauerhaftes Einkommen zu sichern, muss ein Schriftsteller auch auf der Fünf-Bücher-Liste einer ganzen Menge Leser des Vorpräge-Typus stehen. In Erwartung dieses Jackpots bekommt jedes Jahr

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