Anleitung zum Alleinsein
aber im Zuge einer Umstrukturierung bei der Post im Bereich Verteilung mehrere mittlere Gehaltsstufen abgeschafft; das schien weiteren möglichen Beförderungen von ihr ein Ende zu setzen. Sie beschloss, sich um eine Ebene zurückstufen zu lassen, und ging in die Zustellung; ihr Plan war, sich dort fortzubilden,ein Jahr auf einer mittleren Stelle abzusitzen und dann zu versuchen, in die Verteilung zurückzugehen, auf eine höhere Position. Im Januar 1993 wurde sie in der Filiale Hyde Park in der South Side Chicagos Leiterin der Zustellabteilung.
Im selben Winter erhoben Geschäftskunden der Post, darunter ein Konsortium regionaler Banken, das als Chicago Clearing House bekannt war, über den Service bittere Klagen. Aus Angst, eigene Kunden zu verschrecken, veröffentlichte die Gruppe ihre Beschwerden nicht, allerdings war sie unter anderem wegen der Schließfächer im Hauptpostamt, in denen die Zahlungsanweisungen von Behörden und Geschäftsinvestoren eingingen, in heller Aufregung. Die Post hatte sich offiziell verpflichtet, neunzig Prozent der Schließfachpost innerhalb der Standardzeit zuzustellen. (Für Sendungen, die innerhalb der Region Chicago verschickt und ausgetragen werden, beträgt die Standardzeit einen Tag, d. h. zugestellt wird über Nacht. Für Sendungen aus Seattle beträgt der Standard für die Auslieferung in Chicago drei Tage.) Im Winter 1993 war der Prozentsatz der pünktlichen Schließfach-Zustellung auf etwas über sechzig Prozent gesunken.
Von vielen Seiten unter Druck, stellte Ormer Rogers, der Leiter des Zustellbereichs Great Lakes Area, ein achtköpfiges Service-Verbesserungs-Team zusammen, das Störungen im Verteilungs- und Zustellsystem aufspüren und mit Nachdruck daran arbeiten sollte, sie zu beheben. Einige von Rogers’ Berufungen waren politisch begründet, andere spiegelten berufliche Kompetenz. Zur letzteren Gruppe gehörte auch Gayle Campbell, die zur De-facto-Leiterin des Teams wurde.
Sie deckte Schwierigkeiten ohne Ende auf. Es gab Postboten, die ihre Touren mit behelfsmäßig an ihren Karren geschnallten Plastikkübeln machten, weil niemand eine Tasche für sie angefordert hatte. Es gab Postboten, die nicht zugestellte Post in den Briefkasten an der Ecke warfen, damit sie abgeholt und neu verteilt würde. Sie hörte zufällig, wie ein Betriebsleiter einen Kundenanbrüllte, dessen Schließfachschloss kaputt war: «Hau bloß ab hier!» Es gab Postboten, die an kalten Tagen von zwölf bis 17 Uhr 30 im Auto saßen und dann mit der ganzen Post zu ihrer Filiale zurückkehrten, um vier Überstunden zu scheffeln. Sie ging zur Luftpoststelle am Flughafen O’Hare, wo sie feststellte, dass Maschinen ohne die vertraglich vereinbarte Postfracht abfliegen durften. Sie ging zum NB C-Tower in der Innenstadt und stellte fest, dass Post in Säcken angeliefert wurde, die draußen stehenblieben, sodass jeder sie öffnen konnte. Überall in der Stadt warf sie Testbriefe ein und verfolgte, wo sie abgeholt und entwertet wurden. Manche der Briefe landeten in einer Abteilung für unzustellbare Briefe in Minneapolis.
Solche Funde und die Berichte, zu denen sie führten, machten das Service-Verbesserungs-Team bei den Betriebsleitern der Chicagoer Post nicht unbedingt beliebt. Im Oktober 1993 traf sich Postchef Jimmie Mason mit dem Team und drängte es, die Berichte etwas abzumildern. Statt die Kritik schriftlich niederzulegen, sagte er, solle man lieber versuchen, mit den Filialleitern zusammenzuarbeiten; als Außenstehender habe man von dem Druck, mit dem ein Betriebsleiter fertig werden müsse, nämlich keine Vorstellung.
Für Campbell klang das wie eine Aufforderung, alles wie gehabt laufenzulassen. Ihr Leben war so eng mit dem Postamt verknüpft, dass sie es als Außenstelle ihrer selbst verstand. Ein «schmutziges» Postamt störte sie genauso wie ein schmutziges Bad. Statt ihre Berichte abzumildern, verschärfte sie sie noch. Am 15. und 16. November listete sie während eines Kontrollbesuchs im Postamt Graceland Annex, einer Filiale am nördlichen Seeufer, die Längenmeter Post auf, die «gekürzt», also zurückgelassen wurden, wenn die Zusteller auf ihre Tour gingen. Fall Nr. 5706 hatte um 23 Meter gekürzt. Andere Problemfälle um sechsundzwanzig, dreißig und achtundzwanzig Meter. Bei Fall Nr. 5709 entdeckte das Team zwei große Säcke abgeholter, aber nicht verteilterPost mit einer Woche altem Frankiermaschinendatum. Am 17. November fand Campbell in der Filiale
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