Anleitung zum Alleinsein
Die Post dient als Sprungbrett aus der Sozialwohnungsarmut ebenso wie als Zufluchtsort für Absteiger, für Einzelgänger wie Bartleby den Schreiber. (Melville schrieb Bartlebys seelische Verletztheit dessen Arbeit in der Abteilung für unzustellbare Briefe zu.) Betriebsleiter fürchten unzufriedene Angestellte und Zusteller, da viele, die bei der Post arbeiten, im Umgang mit Waffen geübte Kriegsveteranen sind, und fast jeder fürchtet eine Strafversetzung – auf die Mitternachtsschicht, auf eine Tour mit hoher Kriminalität, nach North Dakota. Das Unternehmen stützt sich zur Gewährleistung der Produktivität stark auf eine quasimilitärisch hierarchisierte Disziplin, und die Kehrseite dieser Disziplin sind Unmut und Betrug. Es gibt Zusteller, die sich, wenn sie damit durchkommen, an einer Tankstelle ein Baseball-Spiel ansehen. An Laderampen wird Dope geraucht und Whisky getrunken. In den höheren Etagen sind Drogen legal: Leitende Angestellte berichten mir vonValium, Klonopin, Zoloft, Prozac, Paxil auf Rezept. Ich trinke einen Abend lang doppelte Margeritas mit drei Verwaltungsangestellten, die über inkompetente Kollegen zutiefst frustriert sind. Habe man einmal die Welt der Postgehälter und -zuwendungen betreten, sagen sie zu mir, komme man, selbst wenn man sie verabscheue, nur schwer wieder von ihr los.
«Die meisten behaupten, wir sind überbezahlt und tun nichts», sagt einer.
«In Chicago würden wir keinen anderen Job kriegen», sagt die zweite, eine Frau Ende vierzig. «Wir sind bei der Chicagoer Post? Und
suchen
Arbeit? Wahrscheinlich könnte ich irgendwo kellnern. Aber sie würden mich sehr genau im Auge behalten.»
«Als wäre man HIV-positiv», sagt der dritte.
Gayle Campbell, die Frau, die nach dem Niedergang der Chicagoer Post die zentrale Rolle spielte, ist eine Gefangene der Postwelt wie auch ihres eigenen Perfektionismus. Sie ist eine schlaksige, hübsche Frau mit großen Augen, einer hohen, offenen Stirn und dichten kastanienbraunen Haaren, die sie hochgesteckt oder als Pagenkopf trägt. Sie zeigt eine augenfällige Intelligenz und in Gesten und Ausdruck eine Intensität, die Verehrung wecken kann. Die Kunden, denen sie geholfen hat, beschreiben sie alle als barmherzigen Engel. Robert Pope, ein Innenarchitekt, sagt mir: «Bis auf Gayle Campbell war bei der Post niemand ehrlich und direkt. Sie ist etwas ganz Seltenes, ein großes Licht.» Andere Bewunderer sind nicht weniger begeistert, räumen aber ein, dass ihre extreme Hingabe an die Post sie verunsichere. Bei der Suche nach fehlgeleiteten Flugtickets hat sie ein ganzes Verteilerzentrum auf den Kopf gestellt. Sie hat Pakete in ihre Wohnung in Uptown mitgenommen und ist nachts aufgestanden, um sie einer Kundin an der Haustür zu übergeben.Normalerweise verbringt sie siebzig Stunden die Woche bei der Arbeit, wird aber nur für vierzig bezahlt. Zwischen ihrer Arbeit und ihrer Identität gibt es kaum eine Grenze. Sie bezeichnet sich als «Postfreak». Ihr Mann ist Zusteller.
Zwar ist Campbells Werdegang außergewöhnlich in den Details, aber er passt in das Schema des Karriere machenden Postbeamten, der, als Außenseiter in der großen, weiten Welt, im Service seine Berufung und in straffer Hierarchie ein Zuhause findet. Campbell wurde 1950 in Kanada geboren und wuchs in Edmonton und Moose Jaw auf. Kulturell betrachtet sie sich nach wie vor als Kanadierin, und ihre Vorfahren beschreibt sie als afrikanisch, irisch und indianisch. 1962 zog die Familie nach Harvey, eine Kleinstadt im Süden Chicagos, wo Campbell, eine hervorragende Schülerin, noch vor ihrem sechzehnten Geburtstag die Highschool abschloss. Gleich darauf ging sie zur Army und diente zwei Jahre in Vietnam. Während sie auf Heimaturlaub war, machte sie die Aufnahmeprüfung für den öffentlichen Dienst und erzielte 99,6 von 100 möglichen Punkten. Unmittelbar nach ihrem Abschied von der Army sprach sie bei der Post in Harvey vor. «Ich war eine Kinderbraut der Post», sagt sie. «Etwas anderes als die Post kenne ich nicht.»
Campbell arbeitete fünfzehn Jahre lang als Postbotin. 1987 wurde sie in die Postverteilung befördert und stieg rasch auf. Bereits 1991 war sie Leiterin des Gesamtbereichs Automatisierung und Mechanisierung in Chicago und hatte zweihundert Mitarbeiter und dreizehn Dienstleiter unter sich. Während der folgenden anderthalb Jahre durchlief sie als Krisenfeuerwehr, Ausbilderin und Buchprüferin den gesamten Verteilerbereich. Im Herbst 1992 wurden dann
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