Anleitung zum Alleinsein
in vielen anderen Großstädten genauso schlecht.
Einerseits spiegeln diese Erklärungen, buchstäblich wie psychologisch, jenes Leugnen, das dazu geführt hat, dass der Postservice in Chicago trotz des unablässigen Trommelfeuers an fundierten Beschwerden mangelhaft geblieben ist. Im Schoße einer Familie unter Druck können alle möglichen Koabhängigkeiten entstehen. Statt zuzugeben, dass jemand aus der Familie schlecht seine Arbeit macht, behaupten manche Postbediensteten (Erklärung Nr. 12), dass «diejenigen, die die meiste Post bekommen» – mit anderen Worten: die wichtigsten Postkunden –, «sich am lautesten beschweren».
Andererseits ist die Unduldsamkeit der Familie gegenüberder Öffentlichkeit teilweise berechtigt. Wenn ich Federal Express in Anspruch nehme, akzeptiere ich als eine Geschäftsbedingung, dass deren Standardformulare in Druckschrift ausgefüllt werden müssen. Eine E-Mail an eine Adresse, bei der nur ein Schriftzeichen falsch ist, geht ins Nichts. Zwei vertauschte Ziffern in einer Telefonnummer, und ich bin mit jemandem verbunden, der erregt Portugiesisch spricht. Elektronische Medien lassen es einen sofort wissen, wenn man einen Fehler gemacht hat; bei der Post muss man warten. Haben wir nicht alle irgendwann die Menschenfreundlichkeit der Post auf die Probe gestellt? Ich schicke etwas an Freunde in Upper Molar, New York (sie leben in Upper Nyack), und erwarte, dass eine mir unbekannte Person über die Oberer-Backenzahn-Adresse lacht und es binnen achtundvierzig Stunden zustellt. In den meisten Fällen tut die mir unbekannte Person das auch. Ihres umfassenden Serviceauftrags wegen gleicht die Post einer großstädtischen Notaufnahme, die vertraglich verpflichtet ist, sich jeder Halsentzündung, Schwangerschaft und durchgedrehten Mutter anzunehmen, die des Weges kommt. Da kann man schon mal Stunden in einem trübe beleuchteten Gang warten. Das Personal kann kurz angebunden und langsam sein. Aber irgendwann kommt man dran. In der «Nixie»-Abteilung des Hauptpostamts – in der die Sendungen mit unleserlicher oder falscher Adresse landen – sehe ich Straßennummern in den Siebzigtausendern, unmögliche Paarungen von Postleitzahl und Straße, Adressen ohne Namen, ohne Straße, ohne Stadt, Adressen, die nur aus einer Gebäudebeschreibung bestehen, Adressen, die mit wasserlöslicher Tinte geschrieben und vom Regen verwischt wurden. Erfahrene Nixie-Mitarbeiter schauen sich diese Waisen eine nach der anderen an. Entweder finden sie ein Zuhause für sie, oder sie drücken den aussagekräftigsten aller Poststempel darauf, den zinnoberroten mahnenden Finger, der die Schuld schlicht einem selbst, dem Absender, zuschiebt.
Nicht alle Erklärungen der Postfamilie für Chicagos Miserebezichtigen die Öffentlichkeit. Viel wird der harte Winter des Jahres 1994 erwähnt (Erklärung Nr. 13). Erwähnt wird auch das Management. Debra Hawkins merkt an, dass Chicago im Lauf der letzten sieben Jahre sieben Postchefs hatte, jeder mit einem anderen Konzept, und dass leitende Postangestellte, die aus wärmeren, kleinstädtischeren Landesteilen versetzt wurden, häufig der Elan fehlt, die Probleme im System anzupacken, und sich lieber vorzeitig pensionieren lassen. Besondere Kopfschmerzen bereiten die Chicagoer Immobilien: Die Modernisierung der städtischen Verteilungseinrichtungen wurde um Jahre verzögert, weil die Post ein Auge auf ein Stück Land geworfen hatte, das die Stadtentwicklungsbehörde anders verwenden wollte.
Letztlich, und das leuchtet durchaus ein, gibt die Postfamilie Marvin Runyons Umstrukturierung der Post die Schuld. Der langjährige Manager eines Autounternehmens und ehemalige Chef des Energieerzeugers Tennessee Valley Authority wurde im Juli 1992 Postminister und startete sogleich einen Angriff auf die bürokratischen Strukturen der Post. Er verkündete seine Absicht, dreißigtausend «allgemeine» Stellen abzubauen, und bot jedem dafür in Frage kommenden Angestellten, der bis zum 3. Oktober 1992 in Rente ging, als Prämie ein halbes Jahresgehalt. Das Abfindungsangebot – Teil der radikalsten Umstrukturierung einer Bundesbehörde, seit Eisenhower das Pentagon reformierte – erwies sich als ungeheuer beliebt. Als alle Antragsformulare eingegangen waren, hatten achtundvierzigtausend Postbedienstete den Vorruhestand gewählt. Das Dumme war nur, dass lediglich vierzehntausend davon «allgemeine» Positionen bekleidet hatten. Die anderen waren ältere Zusteller,
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