Anleitung zum Alleinsein
all der Techniken, mit denen wesentliche Informationen heute nicht mehr übertragen werden. Die grünen Fluten des Chicago River schlagen sanft gegen seine Untermauerung. Die Kellergeschosse haben Verbindungstüren zu den Bahnsteigen der Union Station, zu der Züge so gut wie keine Post mehr transportieren, und mitten durch seine Flanken stößt der achtspurige Eisenhower Expressway. In der stillen, grottenartigen Eingangshalle stellen Basrelief-Medaillons aus Messing die fünf Transportmöglichkeiten dar, deren sich die Post bis 1933 bediente: Segelschiff, Dampfschiff, Flugzeug, Postkutsche und Bahn. Ein separates Philatelisten-Center verkauft Kolibris und selbstklebende Eichhörnchen und, in jeder Form und Farbe, Liebe, LIEBE ,
Liebe
– die heitere Abstraktion, der die amerikanische Post wie eines Königshauses gedenkt.
Die Aufgaben des Hauptpostamts werden bald auf ein neues Gebäude, das gerade für eine Viertelmilliarde Dollar auf der gegenüberliegenden Straßenseite errichtet wird, und ein kleineres, schon in Planung befindliches im Nordwesten der Stadt verteilt sein. Bis jetzt wird der Großteil der Post für die zweitgrößte Stadtder USA noch immer durch die alten Gebäude geschleust. Um sechs Uhr abends schuften Arbeiter beiderlei Geschlechts in der ständig von Dieselschwaden durchwehten Düsternis der unterirdischen Laderampen, ziehen aus Lieferfahrzeugen Plastikwannen mit Post und schicken sie nach oben zum «Wasserfall» – einem System aus Fließbändern und Rutschen, das sich die eintreffenden Briefe wie laichende Lachse hinaufarbeiten müssen. Eine mit Teppichboden verkleidete Walze schiebt alles, was sich für eine automatische Verteilung nicht eignet (geknickte Sendungen, sperrige Sendungen, aufgerissene Sendungen) zur Spezialbehandlung in einen Korb. Automatisierung und Mechanisierung haben die Postverteilung seit 1966 erheblich beschleunigt, doch im selben Zeitraum hat sich das Gesamtvolumen der Post mehr als verdoppelt. Kubikmetergroße eingeschweißte
T V-Guide -
Klötze
,
klobige Werbemittel-Quader hocken träge auf Paletten. Dienstleiter tragen Buttons mit der Aufschrift «Ich bin Teil der Lösung». Dem Ort haftet eine verstaubte Stagnation an. Rußige Fenster streuen die Abendsonne auf ramponierte Parkettböden und graue Amtsmöbel. Sachbearbeiter tragen Ablagekörbe weder schnell noch langsam von Ausgangs- zu Eingangsstellen. Die Anlage ist in ihrem ehrwürdigen Alter bestürzend vertikal. Die Laderampen im oberen Stock sollten einst Zugpferde unterbringen.
Meine offizielle Führerin durch Chicagos Postsystem ist eine sonnige, zierliche Expertin für Öffentlichkeitsarbeit mit angenehmer Stimme, Debra Hawkins. Wo wir im Hauptpostamt auch hinkommen, überall trifft sie ehemalige Mitarbeiter, die sich lauthals freuen, sie zu sehen, und Hawkins lässt sich beredt über das Thema «die Postfamilie» aus. Sie spricht von Bowlingteams, Golfteams, Basketballteams der Post. «Die Atmosphäre ist sehr freundschaftlich und intim», sagt sie. «Wir haben hier Leute mit über fünfzig Dienstjahren auf dem Buckel. Das ist ihre eigentliche Familie. Sie leben, um zur Arbeit ins Postamt zu gehen.»
Wenn aber die Familie so harmoniert, warum ist dann die Zufriedenheitsrate der Chicagoer Kunden dauerhaft so niedrig? Von den verschiedenen Erklärungen, die Hawkins und andere Familienmitglieder mir anbieten, bezichtigt eine beachtliche Menge die Öffentlichkeit. 1. Die Kunden begreifen nicht, dass nicht jeder die erste Station auf einer Zustelltour sein kann. 2. Die Kunden merken sich die eine schlechte Erfahrung, die sie gemacht haben, und vergessen die zahlreichen guten. 3. Die Kunden ziehen häufig um, und sie füllen die Karten mit der Adressänderung falsch oder gar nicht aus. 4. Die Kunden halten nichts von Wohnungsnummern, und oft ziehen sie innerhalb eines Gebäudes um, ohne ihre Adresse zu korrigieren. 5. Die Kunden weigern sich, Briefkästen mit ihren Namen zu versehen. 6. Einwanderer adressieren ihre Post in einer fremdartigen Weise. 7. Im Zuge der Aufwertung der North Side ist dort die Bevölkerung schneller gewachsen, als neue Postfilialen folgen können. 8. Immer mehr Menschen machen sich selbständig und arbeiten zu Hause, was das Postaufkommen vergrößert. 9. Die Kunden adressieren ihre Post mit einem Gekritzel, das die automatischen Sortiermaschinen nicht entziffern können. 10. Die Presse bringt immer nur das Negative. Und überhaupt ist 11. der Service
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