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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Lakeview Post, die im Juli ferienbedingt zurückgelassen worden war und noch immer auf ihre Zustellung wartete. Bei Fall Nr.   1342 fand sie Expresspost vom Oktober und einen Steuerbescheid vom September. Bei Fall Nr.   1346 förderte sie Cerealienproben der Firma General Mills vom Juni zutage.
    Das ganze Jahr 1993 hatte Campbell aufgebrachten Kunden versichert, es sei Postchef Jimmie Mason ernst damit, in Chicago aufzuräumen. Als hartnäckige Optimistin glaubte sie noch immer, sie werde wegen ihrer langen Arbeitszeiten und der Verbesserungen, die ihr Team bewirkt hatte, befördert werden. Aber entweder hatte sie Mason von Anfang an falsch eingeschätzt, oder Chicago hatte ihn verändert. Ende November versprach er, so Campbell, einer Versammlung von Betriebsleitern aus der Stadt, das Service-Verbesserungs-Team werde Ende des Jahres aufgelöst sein, und weitere Schikanen hätten sie nicht zu befürchten.
    In derselben Woche ging jedoch ein Mann namens Jerry Stevens in die Filiale Graceland, um sich nach seiner Geschäftspost zu erkundigen, die vier Tage hintereinander ausgeblieben war. Er wagte sich in den Zustellersaal vor, sah einen riesigen Berg zurückgelassener Post. Neunzig Minuten nachdem er bei einer Beschwerdestelle der Post angerufen hatte, rief der Filialleiter von Graceland zurück, entschuldigte sich für den schlechten Service und drohte dann, ihn verhaften zu lassen, sollte er den Zustellersaal noch einmal betreten. Stevens rief sogleich bei der
Chicago Sun-Times
an, und deren Reporter Charles Nicodemus machte die Anekdote zum Kern eines vernichtenden Artikels über die Beschwerden, die gegen die Postämter der North Side vorgebracht wurden.
    Am 13.   Dezember, als der Artikel erschien, beauftragte Rogers, der Leiter des Zustellbereichs Great Lakes Area, seine Leute mit der Überprüfung der Filialen am nördlichen Seeufer und forderteden internen Kontrolldienst der Post auf, eine Parallelstudie durchzuführen. Der Kontrolldienst ist ein Wachhund an einer langen Leine: Von Mitarbeiterklauereien und Drogenmissbrauch bis hin zu Spar-und-Darlehens-Betrug und Internet-Pornographie untersucht er einfach alles. Da Campbell mit den Inspektoren schon zusammengearbeitet hatte und sie vertrauenswürdig fand, hatte sie ihnen heimlich Kopien ihrer Berichte geschickt. Bevor Jimmie Mason das Service-Verbesserungs-Team auflösen konnte, bat der Chef des Kontrolldienstes es um Mithilfe bei der Prüfung.
    Als die neuen Berichte Anfang Februar des Jahres 1994 fertiggestellt waren, setzte sich Mason mit jedem Mitglied des Teams zusammen, um über, wie er es nannte, dessen «Aufstiegsmöglichkeiten» zu sprechen. Campbell sagte ihm, sie gäbe bestimmt eine gute Betriebsleiterin in Uptown ab, da sie dort wohne. Mason antwortete, dafür habe sie nicht den geeigneten Werdegang. Er bot ihr eine Stelle als Dienstleiterin unter dem damals tätigen Leiter der Filiale Uptown an, Thomas Nichols – der häufig Gegenstand ihrer Kritik gewesen war. Sie lehnte dankend ab. Eine Woche später teilte Mason sie wieder der Filiale Hyde Park als Leiterin der Zustellabteilung zu.
     
    Zum Emblem einer Behörde in der Krise wurde die Chicagoer Post erstmals im Oktober 1966, als sie einen schlimmen Schlag erlitt. Ein Rückstau von zehn Millionen Postsendungen überflutete das riesige, altersschwache Hauptpostamt. Güterwagen und Postautos verstopften die Zufahrten des Gebäudes. Fast drei Wochen lang war die Zustellung in der Stadt lahmgelegt, und Millionen Briefe und Pakete auf dem Weg wohin auch immer blieben liegen.
    Zwei Jahre später kam die vom U S-Präsidenten eingesetzteKommission zur Untersuchung der Unternehmensstruktur der Post, die sogenannte Kappel Commission, zu dem Ergebnis, schuld an dem Stillstand seien veraltete, schlecht gewartete Anlagen und eine Vielzahl von Managementproblemen gewesen, darunter eine Vakanz in der Chefetage der Chicagoer Post während eines halben Jahrs davor, die «Pensionierung einer ungewöhnlich hohen Zahl erfahrener Dienstleiter Ende 1965», die niedrige Arbeitsmoral der Angestellten, ein «Krankenstand, der um das Doppelte über dem Landesdurchschnitt liegt», sowie die «niedrigste Produktivitätsrate der Post im ganzen Land».
Plus ça change:
Die Liste zeigt praktisch Punkt für Punkt die Krise der Chicagoer Post von 1994 auf.
    Das nunmehr einundsechzig Jahre alte Hauptpostamt in der West Van Buren Street 433 ist nach wie vor das größte freistehende Postgebäude des Landes und ein Monument

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