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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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einmal, dass es Schwierigkeiten gab.
    Als Doyle in der Schalterhalle des Postamts Uptown Gayle Campbell begegnete, fand sie in ihr eine Angestellte, der es eindeutig nicht egal war. Abends, als sie mit ihr zu Hause sprach, wurde ihr klar, dass sie in ihr auch eine Angestellte gefunden hatte, die wusste, dass es bei der Post Schwierigkeiten gab. Campbell war redegewandt und zornig, und Doyle erkannte schnell – so schnell, dass sie gleich am nächsten Morgen ihren Stadtrat anrief, Patrick O’Connor   –, dass die Frustration innerhalb der Post endlich das Frustrationsniveau außerhalb erreicht hatte. Bei diesem Gleichstand begannen die Informationen zu fließen.
     
    Die Post ist, obwohl immerzu schlechtgemacht, die beständigste und auch beliebteste Bundesbehörde im Alltag der Nation. Mein amerikanisches Selbstverständnis erwächst zu einem kleinen Teil aus dem Wissen, dass wir nach wie vor den besten Postdienst, die niedrigsten Portogebühren und die hässlichsten Briefmarken aller Industrienationen haben. (Wie italienisch die italienische Post ist, wie deutsch die deutsche.) Zudem bewältigt die Post eine schwierige Aufgabe für eine Bürokratie durchaus achtbar. Vermutlich würden die Schrecken der Post zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen, wenn jeder Haushalt im Land sechsmal die Woche mit dem Arbeitsministerium oder der Marine zu tun hätte. Obwohl Postminister Marvin Runyon das Unternehmen mit seinen fünfzig Milliarden Dollar Jahresumsatz gern als das achtgrößte des Landes bezeichnet, arbeitet er unter Zwängen, denen in der Privatwirtschaft kein Vorstandsvorsitzender ausgesetzt ist: Rechenschaftspflicht gegenüber Kongressausschüssen, Wahrung echter Vielfalt bei Einstellungen und Beförderungen unter besonderer Berücksichtigung von Veteranen und Behinderten,vor allem aber die Bereitstellung eines umfassenden erstklassigen Pauschalservice. Die Post verkörpert den Traum von Demokratie. Jeder Bürger, selbst ein Häftling oder Kind, kann mit jedem anderen zu demselben niedrigen Preis kommunizieren. Es ist dieses bleibende Ideal eines umfassenden Services, das eine Einrichtung am Leben hält, die überwiegend an der gefährlichen Schnittstelle von Regierung, Großkapital und Lokalpolitik angesiedelt ist. Gäbe es dieses Ideal nicht, hätte Washington den Laden längst verkauft.
    Die Spannungen im Verhältnis zwischen Chicago und seiner Post sind in gewissem Maß eine Folge des umfassenden Service-Auftrages. Mir ist aufgefallen, dass ich mich jedes Mal, wenn ich mit Mitarbeitern der Post spreche, unbehaglich durchleuchtet, ja epistemisch benachteiligt fühle. Die Mitarbeiter brauchen die Einzelheiten meiner persönlichen Post-Beziehung nicht zu kennen, etwa dass ich mit äußerster Gewissenhaftigkeit Durchschläge meiner Privatbriefe anfertige, dass ich während der vergangenen fünf Jahre sechzehnmal die Adresse geändert habe (allein im letzten Jahr in Philadelphia hatte ich vier Adressen), dass ich als Junge alle drei Varianten des als Fehldruck berühmt gewordenen Dag-Hammarskjöld-Satzes von 1962 sammelte oder dass ich eine Briefwaage für das einzig wirklich unverzichtbare Kleingerät halte. Was die Mitarbeiter der Post über mich wissen, ist das, was sie über jeden anderen auch wissen: Ich bin Kunde.
    Wie der katholische Klerus ist uns die Post fremder als wir ihr. Oprah Winfrey hat einen Koan gemacht aus der Frage: Warum erschießen Postbedienstete einander? Trotz ihrer Allgegenwart gehören Postämter noch immer zu den obskursten Arbeitsplätzen Amerikas. Sie sind Ausland mitten im Staat. Sie haben ihren eigenen interaktiven satellitengestützten Fernsehsender, über den die Mitarbeiter Nachrichten und Anweisungen von der Zentrale an der L’Enfant Plaza in Washington empfangen.
    Viele Bedienstete halten ihr Postlerleben streng von ihrem Privatlebengetrennt. Chicagoer Büroangestellte und Zusteller, die in einem Problemviertel wohnen, haben mir gesagt, sie hielten sich mit ihrer Tätigkeit vor ihren Nachbarn bedeckt, denn wenn man bei der Post arbeite, kennzeichne einen das als vermögend, als Ziel von Überfällen. Ein höherer Angestellter erzählte mir, er habe gelernt zu sagen, er arbeite bei der «Regierung», weil die Leute ihn sonst fragen würden, warum sie letzten Mittwoch keine Post bekommen hätten.
    Wenn Postbedienstete zusammensitzen, reden sie darüber, wer sich bei wem hochgeschlafen hat und welcher Sortierer auf einem Sofa im Aufenthaltsraum eines natürlichen Todes gestorben

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