Anleitung zum Alleinsein
ist. Sie überlegen, warum Postminister Marvin Runyon in einem Fernsehinterview überhaupt nicht geblinzelt hat, ob es wohl an seinen Medikamenten gegen die Rückenschmerzen lag. Sie haben einen Riesenspaß an Hundegeschichten. Man sagt mir, sollte ich mich je einem streunenden Rudel gegenübersehen, müsse ich mein Reizgas gegen den einsetzen, der als Erster bellt. Mir wird von einem Vorort-Zusteller erzählt, der gezwungen war, sich vor einem aufgebrachten Schäferhund in einen Ablagekasten zu flüchten, in den er den ganzen Sommer über seine Bananenschalen und Milchtüten geschmissen hatte.
An einem heißen Vormittag im Juni stehe ich in dem behaglich-schäbigen Verteilersaal der Postfiliale Cragin in der West Side Chicagos, während ein Zusteller namens Larry Johnson die letzten Sendungen in seinen «Verteilerspind» steckt – ein Postfachregal mit Schlitzen für je zwei Adressen auf seiner Tour. Für das Sortieren der Tagespost braucht ein Zusteller zwischen anderthalb und vier Stunden; der Arbeitstag beginnt schon um halb sechs. «Man braucht nicht wahnsinnig viel Hirn für den Job», erzählt mir Johnson, «man muss bloß lesen können.» Lachend fügt er hinzu, davon könne man bei der Post nicht immer ausgehen. Johnson ist ein stämmiger Kerl, dessen blaue Posthose ihm tief auf den Hüften hängt; er ist fünfunddreißig, dochseine körperliche Abgespanntheit lässt ihn älter erscheinen. Er gibt mir ein Reizgasspray (sein eigenes kommt zwei-, dreimal die Woche zum Einsatz), und ich folge ihm nach draußen zu seinem Wagen, einem verschrammten burgunderroten Lincoln, dessen Kofferraumdeckel er mit einer Eisenstange abstützen muss, solange er Bündel Briefpost und ein schuhkartongroßes Päckchen hineinwirft. In Chicago sind nicht alle Zusteller mit einem Postauto ausgestattet.
Johnson verbringt von seinem Arbeitstag mehr Zeit in der Filiale als auf der Straße, aber auf der Straße findet er, was sein Beruf an Sinn zu bieten hat. Während er seine Posttasche für den ersten Abschnitt seiner Tour packt, erzählt er mir, dass er mit seinen Kollegen nicht viel zu tun hat. «Die reden mir zu viel», sagt er. «Die erzählen sich lauter privates Zeug.» Wie die meisten Postboten hat er auch noch einen anderen Job; er ist Pfarrer einer protestantischen Kirche. Seine Gemeinde weiß nicht, dass er nebenher Post austrägt, und seine Kollegen wissen nicht, dass er predigt. Auf der Straße dagegen wissen die alten Frauen, die am Gartentor warten, um mit ihm ein «guten Morgen» zu wechseln, ganz genau, wer er ist. Er bekommt von ihnen Briefe in die Hand gedrückt, die er aufgeben soll, und Geld für die Briefmarken, und sie erzählen ihm Neuigkeiten aus dem Viertel. Er zeigt auf ein Haus, dessen Besitzer am Samstag zuvor gestorben ist.
Es ist ein Tag mit wenig Post in einem Arbeiterviertel. Johnson hat kaum mehr als Krankenhausrechnungen und Werbezettel von Walgreens in die Schlitze und Kästen zu stecken. Sein Job besteht nur aus Beinarbeit und Konzentration. Wenn er die Gedanken schweifen lässt – sich die Überlegung gestattet, ob die Familie am Ende der Straße an diesem Morgen wohl daran gedacht hat, ihren verrückten Hund einzusperren –, vergisst er, die Zeitschriften und Kataloge zuzustellen, die separat sortiert wurden, und muss den ganzen Weg nochmal zurück. Sein Hemd wird dunkel vom Schweiß auf unserem Weg durch die langenMorgenschatten, durch die Verlassenheit eines vom morgendlichen Berufsverkehr entleerten Wohnviertels. Kinder, die krank zu Hause bleiben, und Schriftsteller, die zu Hause arbeiten, kennen diese Leere. Sie gibt einem das Gefühl, von der Welt entfremdet zu sein, und für mich wird dieses Gefühl seit je vom Geräusch der nahenden und sich entfernenden Schritte eines Postboten bestätigt und verstärkt. Postbote sein heißt, Stunden in dieser Leere zu verbringen, fünfhundert verlassen daliegende Rasenflächen eine nach der anderen aufzustören. Ich bitte Johnson, mir das Interessanteste zu erzählen, was ihm in seinen neun Jahren als Postbote passiert ist. Nach kurzem Nachdenken sagt er, etwas Interessantes sei ihm nie passiert.
Vielleicht das Wichtigste an der Arbeit bei der Post ist, dass sie von denen, die sie ausüben, als lukrativ und sicher angesehen wird; ein Postbote mit sechs Berufsjahren verdient über dreißigtausend Dollar und kann nur gefeuert werden, wenn er etwas richtig verbockt hat. Wichtig daran ist auch, dass die Arbeit Angst machen und unangenehm sein kann.
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