Anleitung zum Alleinsein
Die «Kappel Commission» war zu dem Schluss gelangt, dass die Post nur dann flexibel genug werden würde, sich in der modernen Welt zu behaupten, wenn sie als unabhängiges Unternehmen operieren könnte. Kongress und Präsident verloren zwar das Recht auf die politische Ämterbesetzung bei der Post, aber sie entledigten sich auch der Last, das Unternehmen am Laufen zu halten und seine Defizite auszugleichen. Statt den Kopf hinzuhalten, wenn die Öffentlichkeit sich über Gebühren oder den Service beschwerte, konnten sie sich nun der Kritik anschließen.
Die Chicagoer Postkrise von 1994 zeigt die Ergebnisse dieser Politik. Die Bewohner von Großstädten sind heute mehr denn je Bürger zweiter Klasse. Es ist schmerzlich, wenn ein alter Kongressabgeordneter wie Sidney Yates, der in Washington unter Truman tätig war, sich kopfschüttelnd nach der Zeit der Ämterbesetzung zurücksehnt. Das Amt des Postministers war einmal die Rosine, die der Bundesvorsitzende der Präsidentenpartei erhielt, und bis 1971 waren sämtliche Postchefs der Großstädte politisch besetzt. War der Postservice schlecht, konnte man im Wahlkreisbüro anrufen, und es passierte etwas. Anfang der neunziger Jahre konnte man, wie Yates erfahren musste, beim Postminister höchstpersönlich anrufen, und es passierte nichts. Mit ihren fünfzehntausend Angestellten war die Chicagoer Post nach wie vor eine politische Machtbasis, die Stellen genauso verteilte wie die Kreisvorsitzenden einer Partei einstmals Speckseiten; doch sie diente keinem anderen Herrn als sich selbst. Dieselbe Umstrukturierung, die einen Postchef vor politischem Kleinkrieg schützte und auch angestellten Handwerkern den Weg zu einer hohen Stellung bei der Post öffnete, schottete ein städtisches Postamt nun wirkungsvoll vor seinen Wählern ab.
In Chicago ist Rassenklüngel an die Stelle politischer Vetternwirtschaftgetreten. Es entgeht öffentlichen Kommentatoren, nicht aber privater Beobachtung, dass die Unruhe unter weißen Postkunden der North Side kurz nach der Berufung des ersten schwarzen Postchefs von Chicago begann und dass schwarze Postchefs seitdem mit immer schärferen Beschwerden konfrontiert wurden. Früher war die Arbeit bei der Post einer der wenigen ehrbaren Berufe, die gebildeten Afroamerikanern offenstanden (Cross Damon, die Hauptfigur in Richard Wrights Roman
Der Mörder und die Schuldigen,
führt Sartre’sche Gespräche mit drei Arbeitskollegen am Hauptpostamt in der West Van Buren Street 433), und bis heute ist sie ein wichtiger Ausweg für arme Schwarze aus den Slums. Ende der siebziger Jahre, als sich ein Großteil der weißen Mittelschicht in die Vororte zurückgezogen hatte, arbeiteten bei der Chicagoer Post überwiegend Schwarze. Der Anteil liegt heute bei nahezu neunzig Prozent.
Viele der Probleme in einer nördlichen Filiale wie Uptown – überhandnehmendes Krankfeiern, starke Fluktuation, schlechte Arbeitsmoral – werden durch die vielen Straßenkilometer zu den Schwarzenvierteln der South Side, wo die meisten Postbediensteten leben, noch zusätzlich verschärft. Festangestellte Bedienstete lassen sich schnell in für sie günstiger gelegene Viertel versetzen. Dasselbe gilt für Dienstleiter und Manager, die von Uptown schon als Sibirien gesprochen haben. Die Folge ist eine permanent unerfahrene North-Side-Belegschaft.
Die Rassenfrage prägte die Krise aber noch weit fundamentaler. Die Filialen am nördlichen Seeufer wurden als «schwierig» wahrgenommen, weil der Umfang der Beschwerden so groß war. Andere Filialen in Chicago wurden zwar genauso schlecht geführt, doch die Bewohner armer Viertel arbeiteten entweder den ganzen Tag oder erhielten außer den Schecks vom Sozialamt und der Rentenversicherungsanstalt wenig Post. In der North Side lebten Selbständige und Menschen mit Muße, denen es auffiel, wenn die Post spät kam und wenn eine Woche lang das
Wall Street Journal
ausblieb. Die Bewohner der North Side hatten hohe Ansprüche. In den Jahrzehnten der Vetternwirtschaft unter Bürgermeister Daley hatten sie gelernt, wie man sich organisiert und beschwert. Nun aber hatten sich die Regeln geändert. Die Post, die zwar aussah wie ein städtischer Dienst und sich auch früher dementsprechend verhalten hatte, war nicht mehr rechenschaftspflichtig.
Im Mai nach der Versetzung von Mason, Rogers und Green – drei Afroamerikanern – verurteilte die Chicagoer Ortsgruppe der National Association for the Advancement of Colored People, der aufgefallen
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