Anleitung zum Alleinsein
Dienststelle, dass ihr Chef aus Chicago versetzt werde. Nicht lange nach seiner Versetzung bekam er eine schwere Krankheit unklarer Natur.
Am Morgen des 4. Februar 1994 trieb die Dysfunktion der Postfamilie auf dem Parkplatz der Filiale Lakewood in der Irving Park Road spektakuläre Blüten. Ein Zusteller, dessen Wagen nicht ansprang, öffnete den Wagen eines Kollegen, des Zustellers 1345, um Starthilfe zu bekommen. Auf der Pritsche entdeckte er hundert Säcke nicht zugestellter Post – wie sich herausstellte, insgesamt 40 100 Sendungen mit 484 verschiedenen Adressen. Die ältesten Poststempel datierten vom Dezember.
Als die Postinspektoren das Service-Verbesserungs-Team baten, den Inhalt der hundert Säcke zu zählen (das ging mechanisch vonstatten, mit optischen Zeichenlesern), erfuhr auch Gayle Campbell von der Entdeckung. Sie war von dem Vergehen des Zustellers 1345 herzlich wenig überrascht. In einem Bericht vom November hatte sie ihn als unfähigen Mitarbeiter bezeichnet, der seine Post gewohnheitsmäßig «kürze», und es lag auf der Hand, dass seitdem nichts unternommen worden war, um seine Leistungen zu verbessern. Sie entschloss sich nun, die Information an jemanden weiterzugeben, der womöglich etwas damit anfangen konnte.
Dieser Jemand war Charles Nicodemus. Seit dem Erscheinen seines Artikels in der
Sun-Times
im Dezember hatten die Chicagoer die Redaktion der Zeitung mit Anekdoten über die Post bombardiert, doch dem Blatt fehlten genügend gesicherte Fakten, um eine Fortsetzung zu bringen. Dann, am 21. Januar,bekam Nicodemus einen Anruf von Stadtrat Patrick O’Connor. O’Connor sagte, eine seiner Wählerinnen – Debra Doyle – habe mit einer Postbediensteten gesprochen, die bereit sei, auszupacken und Namen zu nennen. Nicodemus ergriff die Gelegenheit beim Schopf, Gayle Campbell zu befragen.
Bei seinen Bemühungen, sich die Geschichte über den Postboten 1345 bestätigen zu lassen, wurde Nicodemus von der Post wiederholt belogen. Noch nachdem die
Sun-Times
den ersten von drei Artikeln über den Vorfall gebracht hatte, leugneten Sprecher der Post beinahe einen ganzen Tag, dass die Postsäcke zufällig entdeckt worden seien. Diese Lügen sowie die Meldung, die Zufriedenheitsrate der Chicagoer Postkunden sei auf vierundsechzig Prozent gesunken, also so niedrig wie noch nie, veranlassten die
Sun-Times
, in einem Leitartikel vom 20. Februar die Entlassung Jimmie Masons zu fordern.
Als der Leitartikel erschien, war Campbell schon wieder in die Filiale Hyde Park zurückgekehrt. Doch noch während ihrer ersten Zusammenarbeit mit Nicodemus hoffte sie, dass Ormer Rogers, der Bereichsleiter, über die Berichte seiner Mitarbeiter ebenso entsetzt sein würde wie sie. Endgültig desillusioniert wurde sie in der Filiale Ashburn im Südwesten Chicagos, wo sie Ende Februar an einer Versammlung aller Zustellungsleiter der Stadt teilnahm. Das Erdgeschoss der Filiale war ein kinnhohes Meer von Post. «Ich machte die Tür auf, und ich sagte: ‹
Himmel
, das ist kein Postamt, das ist ein
Lagerhaus
›», berichtet sie. Auf dem Weg zum ersten Stock wateten Ormer Rogers, fünfzig Betriebsleiter und über zweihundert Dienstleiter wortlos durch die Postsendungen, so als wären sie gar nicht da. «Da wusste ich, dass ich mit den Falschen zusammenarbeitete», sagt Campbell. «Da wusste ich, dass ihnen an Verbesserungen überhaupt nicht gelegen war.» In ihrer Verzweiflung gab sie Nicodemus die Abschlussberichte über die Kontrollen, die Rogers im Dezember in Auftrag gegeben hatte. Die Berichte führten zu der Titelgeschichte der
Sun-Times
vom 2. März («STICHPROBEN BEI POST FÖRDERN CHAOS ZUTAGE») und einer Reihe ergiebiger Fortsetzungen: zweihundertvierzig Längenmeter Post in der Filiale Lincoln Park, die einfach nur dalagen, Dienstleiter, die Drogen- und Alkoholkonsum der Angestellten während der Arbeitszeit tolerierten, das Service-Verbesserungs-Team mundtot gemacht und aufgelöst.
Eine Kopie des Abschlussberichts faxte Campbell auch an das Washingtoner Büro von Senator Paul Simon, der durch Patrick O’Connor von ihr erfahren hatte. Simon und seine Kollegin Carol Moseley-Braun, auch sie Senatorin von Illinois, schrieben Postminister Marvin Runyon gemeinsam einen Brief, in dem sie ihn drängten, Chicago einen persönlichen Besuch abzustatten. Runyon fürchtete, in ein Wespennest zu stechen, und weigerte sich. Daraufhin rief Simon bei ihm zu Hause in Nashville an (Runyon pendelt per
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