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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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publiziert, doch mangelte es ihnen an der Eindringlichkeit und dem Einfluss, deren sie sich in früheren Zeiten erfreut hatten»). Es ist eigenartig, die Gegenwart, die ja schließlich so
gegenwärtig
ist, immer wieder als den staubigen Sackbahnhof historischer Nebengleise serviert zu bekommen. In Rezensionen der
Encyclopedia
wurde breit aufgezählt, was in ihr fehlt, und die Kritteleien bestätigen das Bild der Stadt als eines abgeschlossenen statt eines in Arbeit befindlichen Werks.
    Das Hauptvergnügen an der
Encyclopedia
liegt in einer Art Derrida’scher lateraler Assoziationskette. Ich gelange von «Terrorismus» zu «Anarchismus», von dort auf die gegenüberliegende Seite zu «Amphibien und Reptilien», weiter zu «Vögel» und (nach einem Abstecher ins «Birdland» und einem Höflichkeitsbesuchbei «Parker, Charlie») zu «Kakerlaken», die «bekanntermaßen von Zahnpasta angezogen werden», was mich zu «Colgate-Palmolive» und seinem Gründer «Colgate, William» führt, der 1795 aus England floh, «um den öffentlichen Ressentiments gegen seinen Vater zu entkommen, der die Französische Revolution unterstützt hatte». Es ist wie stille Post: Das Bindeglied zwischen «Anarchismus» und den Sansculotten ist nicht etwa Geschichte, sondern «Kakerlaken».
    Doch dieses Vergnügen hat etwas Sinnentleertes. Eine Stadt lebt in Augen, Ohren und Nase des einsamen Betrachters. Also greift man zur Literatur, um die innere Schnittstelle zwischen Subjekt und Stadt zu finden, und als lebendige Verbindung zu New Yorks Geschichte wiegen ein paar Zeilen Herman Melville oder Don DeLillo ganze Seiten einer Enzyklopädie auf. Hier nun Ishmael in der Stadt:
     
    Dort liegt nun eure Inselstadt der Manhattos, umgürtet mit Kais wie die Inseln im Indischen Meere mit Korallenriffen – der Handel umgibt sie mit seiner Brandung. Nach rechts und nach links führen euch die Straßen zum Wasser.
     
    Und nun DeLillos Bucky Wunderlick, der durch dieselben Straßen mehr als hundert Jahre später geht:
     
    Es war früher Nachmittag und würde bald regnen, in der Luft Nichterlösung, vom Fluss her ein Chemiegeruch. Die Brücken waren in diesem Wetter grausam schön, graue Frauen, fast tot für all die Poesie, die in ihrem Namen geschrieben wurde.
     
    DeLillo, ein wichtiger New Yorker Künstler, kommt in der
Encyclopedia
nicht vor; der längere Artikel «Literatur» hat über dieZeit nach Norman Mailer wenig mehr als das Folgende zu sagen: «Viele der Schriftsteller, die in den sechziger Jahren berühmt wurden, verließen die Stadt in den siebziger und achtziger Jahren.»
     
    In jenen siebziger und achtziger Jahren wurde, wie Rybczynski schreibt, in den Vereinigten Staaten alle sieben Stunden ein neues Einkaufszentrum eröffnet. Er erklärt in
City Life
, dass den Malls in dem Maße, wie ihnen Hotels angegliedert und Museen, Eislaufbahnen und öffentliche Büchereien einverleibt würden, das Recht zuwachse, als «neue Innenstadt» zu gelten. Er staunt über die «Vielfalt» im Lebensmittelbereich eines Einkaufszentrums («Tex-Mex, chinesisch, italienisch, arabisch») und vergleicht die Szenerie mit einem Straßencafé. Seiner Ansicht nach zieht es die Menschen in die Malls, weil sie «ein (in den Augen der meisten) vernünftiges Maß an öffentlicher Ordnung» böten, und «darauf Verlass ist, dass man in ihnen keinem befremdlichen Benehmen ausgesetzt und nicht von ungehobelten Jugendlichen, lärmenden Trunkenbolden und aggressiven Bettlern belästigt oder eingeschüchtert wird». Er setzt hinzu: «Das ist doch nicht zu viel verlangt.» Seinen «akademischen Kollegen», die Einwände gegen den «Hyperkonsumismus» und die «künstliche Wirklichkeit» der Malls formulieren könnten, antwortet er, dass «kommerzielle Kräfte schon immer das Zentrum der amerikanischen Stadt geprägt haben» und dass «es mir nicht einleuchten will, warum es künstlicher sein soll, in der Mall auf einer Bank zu sitzen als auf einer Bank im Park».
    Was mich betrifft, so gebe ich gern zu, dass ich eine geradezu körperliche Sehnsucht nach den Annehmlichkeiten der Vorstadt-Mall habe. Natürliche Opiate überfluten meine neuralen Rezeptoren, wenn ich vom Parkplatz in die Luftschleuse trete. Drinnenist die Beleuchtung gedämpft, jedes Geräusch klingt weit entfernt. Was tut es schon zur Sache, dass Waldenbooks nichts von Denis Johnson führt und Sam Goody nichts von Myra Melford; ich habe Bargeld in der Tasche, meine Haut ist weiß, und ich fühle mich ganz

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