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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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das noch immer. Doch wie Arbeitsminister Robert Reich feststellte, ist der Begriff «Mittelschicht» heute weniger wirtschaftlich als soziologisch definiert. Und die beste Definition könnte dafür «suburban» sein.
    Wie verlässlich die Präsenz der Reichen als Indikator auch sein mag – sie ist lediglich die letzte Wirkung in einer Kette von Ursachen, die mit der Anziehungskraft einer Stadt auf junge Leute beginnt. Wie lange würden die oberen Zehntausend es wohl ohne die Horden junger Singles, die Yorkville bevölkern, in der Park Avenue aushalten? Wie lange würde Manhattan ohne den unablässigen Zustrom junger Künstler, Studenten und Musiker eine Hauptstadt der Kultur bleiben? Wir hören oft, dass die Armen auf die Stadt angewiesen sind, doch junge Leute, insbesondere die kreativen, brauchen sie genauso. Die Vorstadt mag ideal sein, um dort seine Kindheit zu verbringen, aber Leute in den Jahren zwischen Nestflucht und Nestbau brauchen einen Ort, wo sie zusammenkommen können. Die Städte werden also weiterhin zumindest in der Nacht und an den Wochenenden sehr gebraucht werden – es sei denn natürlich, durchs Internet gestiftete Ehen werden die Regel, und das Einzige, was in der Vorstellung noch trostloser ist als virtuelle Brautwerbung, ist der Ehealltag zweier Menschen, die auf diese Weise umeinander geworben haben.
     
    In Manhattan mache ich an windigen Tagen oder nach Sonnenuntergang, wenn sich die Dieseldämpfe heben, gern lange Fußmärsche. Ich gehe, weil ich mich dabei erholen will, und in den letzten Jahren ist mir etwas Eigenartiges aufgefallen, wenn ich auf den Bürgersteigen der Vorstädte von St.   Louis und Colorado unterwegs gewesen bin: Eine nicht unwesentliche Zahl von Männern, die in ihrem Auto oder Geländewagen (es sind immer Männer) an mir vorbeirauschen, fühlt sich bemüßigt, mir Obszönitäten nachzuschreien. Es ist schwer zu begreifen, warum sie das tun. Das einzig Ungewöhnliche an mir ist, dass ich nicht fahre und weder Krickentenblau noch Purpurrot und auch keine nach hinten gedrehte Baseball-Kappe trage. Ich schätze mal, dass sie mir einfach deshalb nachschreien, weil ich fremd bin, und vom Innern ihrer verglasten Fahrzeuge aus gesehen, besitze ich tatsächlich nicht mehr menschliche Realität als der Trainer auf ihrem Fernsehschirm, der einen missliebigen Spielzug angeordnet hat.
    Auch in New York wurde ich schon angeschrien, aber nur von entlassenen Psychotikern, und immer war das in der U-Bahn inmitten von anderen Fahrgästen, deren Mitgefühl ich hatte. Jane Jacobs benennt als Wesensmerkmal des städtischen Lebens die Existenz von Privatsphäre in Menschenaufläufen – einer Privatsphäre, deren Aufrechterhaltung nicht nur pseudoelterlicher Notbehelfe wie abgeschirmter Häuser und überwachter Einkaufszentren bedarf, sondern vernünftiger Umgangsformen, die man am besten an öffentlichen Orten wie dem Bürgersteig erlernt. Dass der weithin beklagte «Niedergang der Höflichkeit» in Amerika zu Hause begann und nicht im sogenannten Großstadtdschungel, findet man in jedem Kino bestätigt, wo das Publikum, das gewohnt ist, Videos im Bett anzuschauen, vergessen hat, wie man die Klappe hält.
    In
Tod und Leben
zitierte Jacobs auch Paul Tillich, der der Überzeugung war, dass die Stadt naturgemäß «bietet, was mansonst nur auf Reisen findet, nämlich das Fremde». Vertrautheit, sei es die von Ladenketten oder plätzchengleich ausgestochenen Grundstücken, höhlt die unabhängige Intelligenz aus und untergräbt auf bizarre Weise die Privatsphäre. In der Vorstadt bin
ich
der Fremde, fühle
ich
mich exponiert. Nur an einem belebten, bunt durchmischten Ort wie New York, umgeben von Fremdheit, finde ich zu mir selbst.
    Ich bin natürlich nicht so naiv von Städten angetan, um zu übersehen, dass die Flachglasfassaden von Silicon Alley genau wie die CR T-Monitore dahinter etwas zeigen sollen: dass die verborgene Verbindung zwischen Fashion Café und Cyber Café eine Kultur des Gesehenwerdens ist. Auch kann man sich Gedanken darüber machen, dass junge Leute, die nach Manhattan kommen und das suchen, was ich suche – das Im-Zentrum-Sein, die Privatheit in der Menge, die Befriedigung, die dadurch erwächst, dass man ein Haar in der Suppe ist   –, irgendwann von dem Miasma der Disneyfizierung abgestoßen werden, das über SoHo und der Fifty-seventh Street hängt und schon ins East Village und auf den Times Square kriecht. Vorerst jedenfalls arbeite und schlafe ich in einem

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