Anleitung zum Alleinsein
bei Freunden wieder, in geliehenen Wohnungen, sogar in der Bibliothek einer Künstlerkolonie, wo ich heimlich Stücke aufnehme, die nur auf CD erhältlich sind. Hinterher spiele ich die Kassetten auf meinem Kassettenrecorder ab und vergesse, woher ich sie habe – bis ich in einer jener trostlosen Wiederholungen, die eine Koabhängigkeit zeitigt, eine andere CD überspielen muss.
Die Vitrine im Mercer an jenem kalten Dezembernachmittag war wie eine Ohrfeige von der modernen Welt:
Es wurde Zeit, erwachsen zu werden
. Zeit, das Wählscheibentelefon auszurangieren. Zeit, sich ins Gedächtnis zu rufen: Wandel ist gesund. Sich in das Unvermeidliche zu fügen ist gesund. Wenn man nicht aufpasst, ist man mit fünfunddreißig schon ein alter, alter Mann.
Doch jetzt, Monate später, während ich das schreibe, ist mein Wählscheibentelefon immer noch im Dienst. Ich habe die Veralterung meiner Geräte als deren Charakterfehler dargestellt, den ich, wie der Ehepartner einer Drogensüchtigen, zu kompensieren suche. In Wahrheit aber steckt der Fehler, die Krankheit, in mir. Veraltet bin ich. Es rührt unmittelbar daher, was ich mache und nicht mache, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Meine beiden Gründe, das Wählscheibentelefon zu behalten, wurzeln in der Existenz eines Autors, der Romane schreibt.
Ein Grund, der naheliegende, ist der, dass ein Telefon zwar billig, aber nicht kostenlos ist. Als Schriftsteller, der ein vierstelligesJahreseinkommen bezieht, bin ich de facto Erbe zweier hoffnungslos veralteter Wertesysteme: der Sparsamkeit der Generation meiner Eltern, die sich auf die Wirtschaftskrise zurückführen lässt, und des Sechziger-Jahre-Radikalismus der Generation meiner Brüder. In den sechziger Jahren waren die Menschen noch so naiv, dass sie fragen konnten: «Soll ich die ganze Woche arbeiten, nur um noch mehr Konsumentendollars in ein korruptes und entmenschlichendes System zu pumpen?» Diese Frage hört man nicht mehr allzu oft gestellt.
In seinem Roman
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
zieht Rilke eine Parallele zwischen der Entwicklung eines Dichters und der Geschichte Venedigs. Er beschreibt Venedig als eine Stadt, die etwas aus der Leere heraus geschaffen hat, als eine «mitten im Nichts auf versenkten Wäldern gewollte» Stadt, einen «abgehärtete[n], auf das Nötigste beschränkte[n] Körper», einen «suggestive[n] Staat, der das Salz und Glas seiner Armut austauschte gegen die Schätze der Völker». Rilke selbst war der Schnorrer schlechthin, ein Meister der totalen Vermeidung einträglicher Beschäftigungen, und wie kein anderer trug er dazu bei, meine Vorstellung davon zu prägen, was Literatur sein sollte und wie ein junger Schriftsteller sie am besten zustande bringen konnte. Literatur, so glaubte ich, sei die Umwandlung von Erfahrungsstroh in sprachliches Gold. Literatur bedeutete, das aufzuheben, was die Welt am Straßenrand abgestellt hatte, und etwas Schönes daraus zu machen.
Wie einer jener Ureinwohner Neuguineas, die angeblich außerstande sind, zwischen einer Fotografie und dem, was fotografiert ist, zu unterscheiden, verbrachte ich die Jahre zwischen meinem zwanzigsten und dreißigsten Geburtstag buchstäblich damit, Unkraut, Müllcontainer und Verbrennungsanlagen nach Material zu durchwühlen und zu versuchen, mein Leben zu einer noch vollkommeneren Metapher für meine Kunst zu machen. Die triumphale Heimkehr mit verwertbarer Beute – Schneeschaufeln,einer Harke mit abgebrochenem Stiel, Stehlampen, Weihnachtssternen, in denen noch Leben war, Alukochgeschirr – gehörte ebenso zur Literaturproduktion wie das Abtippen der Endfassung. Ein altes Telefon war ebenso sehr Erzählgegenstand wie Haushaltsgerät.
Sparsamkeit also, reale wie metaphorische, ist der eine Grund dafür, dass das Wählscheibentelefon noch immer da ist. Der andere ist, dass die Tonwahldinger mich abstoßen. Ich mag ihr steriles Klingeln nicht, ihre Überfülle an Nutzungsmöglichkeiten, ihr rückständiges Design, die ganze Selbstgefälligkeit ihrer Vorherrschaft. Lieber ist mir da die vorwurfsvolle Schwere meines Wählscheibentelefons, genau wie ich die Siebziger-Jahre-Klobigkeit der Komponenten meiner Stereoanlage bevorzuge, weil sie die Legionen geschmackvoller schwarzer Kästen beleidigt, die landauf, landab in jedem Haushalt einquartiert worden sind.
Lange schien ein solcher ästhetischer Widerstand wertvoll oder wenigstens harmlos zu sein. Doch eines Tages wache ich auf und stelle fest,
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