Anleitung zum Alleinsein
dass ich von
allen
abgehängt worden bin. Eines Tages erstarren der Reiz der Sparsamkeit und das Ideal der Schlichtheit zu unfruchtbaren, zeitraubenden Obsessionen. Eines Tages erweist sich, dass Opfer des Marktes gar keine trivialen Dinge sind wie ein Wählscheibentelefon oder eine Vinylschallplatte, sondern etwas, bei dem es für mich um Leben und Tod geht, wie der literarische Roman. Eines Tages stehen dann statt des Telefons meine Bücher von Singer, Gaddis und O’Connor mit aufwieglerischer Achtlosigkeit auf einem Stapel Achtspur-Tonbänder («VERALTETE TECHNIK ODER: DAS URTEIL DES MARKTES») wie auf dem Aschehaufen der Geschichte. Eines Tages besuche ich das Mercer, und am nächsten Morgen erwache ich mit einer Depression.
Seit sechs Jahren hebt das Antidepressivum Prozac die Stimmung von Millionen Amerikanern und Tausenden von Eli-Lilly-Aktionären.
Zentraler Satz eines Artikels in der
New York Times
vom 9. Januar 1994
Es ist gesund , sich der Wirklichkeit anzupassen. Es ist gesund – wenn man erst mal erkannt hat, dass Literatur, wie Proust und Faulkner sie geschrieben haben, dem Untergang geweiht ist –, sich für die siegreiche Technologie zu interessieren, sich in der neuen Informationsordnung eine Nische zu schaffen und die Werte und Methoden der literarischen Moderne nicht nur abzulegen, sondern auch zu vergessen, denn ältere Leser sind ohnehin zu abgelenkt und demoralisiert, um sie in dem, was man schreibt, zu würdigen, und die jüngeren, aufgewachsen mit dem Fernsehen und erzogen in der neuen Orthodoxie der Identitätspolitik sowie der Überlegenheit des Lesers gegenüber dem Text, sind weitgehend blind und taub dafür. Es ist gesund, sich durch anspruchsvolle Arbeit, die womöglich ein paar bedrängten Gleichgesinnten gefallen mag, ansonsten aber bei Möchtegernlesern Unbehagen oder gar offene Ablehnung auslöst, keine Magengeschwüre und Migräneanfälle mehr zuzuziehen. Es ist gesund, das Handtuch zu werfen, wenn etwas zu hart wird. Genauso ist es, per definitionem fast, gesund, den Tod zu vergessen, wenn man sein Leben leben will. Es ist gesund, sich in der eigenen Marginalisierung als Schriftsteller einzurichten (und damit an ihr teilzuhaben) und ein schrumpfendes Publikum, eine sich mehr und mehr verschlechternde Beziehung zum Literaturbetrieb, einen Rückzug in die schützenden Isolierstationen, die Universitäten heutzutage für Schriftsteller bereithalten, als unvermeidlich hinzunehmen. Es ist gesund, die eigenen Maßstäbe herunterzuschrauben und «großartig» zu nennen, was man fünf Jahre zuvor vielleicht noch «ordentlich, aber nicht herausragend»gefunden hätte. Es ist gesund, nicht die Fassung zu verlieren, wenn man feststellt, dass die höheren Semester der Creative-Writing-Studenten zwischen
«liegen»
und
«legen»
nicht unterscheiden können und noch nie Jane Austen gelesen haben, sondern einfach in den sauren Apfel zu beißen und den notwendigen, zeitraubenden Unterricht zu machen. Noch gesünder ist es, sich gar nicht erst darüber aufzuregen – in den Seminaren zu nicken und zu lächeln und schlafende Hunde nicht zu wecken, ja die Studenten Austen entdecken zu lassen, wenn Merchant und Ivory ihr Werk verfilmen.
Wenn ich diese Reaktionen auf das Todesurteil, das die Veralterung darstellt, als «gesund» bezeichne, dann tue ich das allenfalls halb ironisch. Um Gesundheit geht es hier tatsächlich. Der Schmerz der Bewusstheit, der Schmerz des Wissens, er wächst rasch mit den Informationen, die wir sowohl über die Verschandelung unseres Planeten haben als auch über die Unzulänglichkeit unseres politischen Systems, die Unhöflichkeit unserer Gesellschaft, die Zahlungsunfähigkeit unserer Staatskasse und die Ungerechtigkeit in einem Fünftel unseres Landes und in vier Fünfteln unserer Welt, die nicht so reich sind wie wir. Angesichts dieses wachsenden Schmerzes ist es verständlich, dass ein großes und wachsendes Segment der Bevölkerung Trost bei den starken Narkotika sucht, die die Technologie ihnen anbietet. Je beliebter diese Narkotika werden, desto größer wird die gesellschaftliche Akzeptanz ihres Gebrauchs – und desto einsamer der winzige Trupp derer, die vom Temperament her außerstande sind, sich einzureden, die «Kultur» der Technologie sei etwas anderes als eine schlimme Droge. Jedes Mal, wenn man mitbekommt, dass ein Freund aufhört, Bücher zu lesen, jedes Mal, wenn man liest, dass wieder ein fröhlicher junger Autor Fernsehen in Buchform
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