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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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macht, ist das eine Qual. Man wird depressiv davon. Und dann sieht man, was die Technologie für diejenigen leisten kann, die depressiv werden. Sie kann bewirken, dass ihre Depression verschwindet.
Sie kann sie gesund machen.
Und das ist der Augenblick, wo ich selbst ins Spiel komme: Ich schaue mich um und sehe, wie wirklich jeder (so scheint es jedenfalls) Gesundheit findet. Sie freuen sich am Fernsehen und an ihren Kindern, und sie sorgen sich auch nicht übermäßig. Sie nehmen ihr Prozac und sind nicht depressiv. Sie gehen alle höflich miteinander um und lächeln ihr nicht depressives Lächeln, und sie sehen mich mit Augen von so reiner Verständnislosigkeit an, dass ich zunehmend an mir zweifle. Ich komme mir vor wie jemand, der Gesundheit unbändig hasst. Ein Anruf nur, und ich lasse mir selber was verschreiben   …]
     
    Damit endet das Fragment jenes Essays, den ich verwertet habe, um diesen hier zu montieren. Ich schrieb das Fragment vor zwei Jahren, als ich allein und unfähig war, Prosa zu schreiben – unfähig beinahe, die Zeitung zu lesen, so sehr deprimierten mich die Artikel. Die Welt hat sich in den letzten beiden Jahren kaum geändert, ich dagegen, so scheint mir, schon. Wer weiß, ob ich von mir auf andere schließen kann. Ich weiß nur, dass ich kurz nach Abfassung des Fragments aufgab. Einfach aufgab. Egal um welchen Preis, ich wollte nicht mehr unglücklich sein. Also hörte ich auf, mich zu bemühen, ein hochbedeutender Schriftsteller zu werden. Nur morgens aufstehen zu wollen, mehr verlangte ich von mir nicht.
    Und dann war es, als setzte bei mir die Erinnerung ein. Ich erinnerte mich, dass ich als Junge samstags viele Stunden damit zubrachte, aus den Stapeln der Holzverkleidung, die mein Vater im Keller herausgerissen hatte, rostige Nägel zu ziehen. Ich erinnerte mich, wie ich sie mit dem Hammer auf einem Stück Alteisen, das mein Vater als Amboss wiederverwertet hatte, gerade schlug und meinem Vater dann zusah, wie er diese Nägel weiterverwendete,als er sich eine Werkstatt baute und den Keller neu vertäfelte. Ich erinnerte mich an meine jugendliche Bewunderung für meinen älteren Bruder Tom, der in den siebziger Jahren eine Zeit lang avantgardistischer Filmemacher in Chicago war und in Pilsen eine Wohnung mit Werkzeug und Materialien renovierte, die er größtenteils auf dem inzwischen nicht mehr existenten Trödelmarkt in der Maxwell Street abgestaubt hatte. Er besaß zwei alte Karmann Ghias, einen schlechten gelben von unserem anderen Bruder, Bob, und einen noch schlechteren hellblauen, der ihm hundertfünfzig Dollar wert gewesen war. Er baute abwechselnd Sachen aus ihnen aus, um sie im anderen einzubauen; das war sehr zeitaufwendig. Als beim gelben eine Pleuelstange brach und nichts mehr ging, saß ich mit im Wagen, genauso wie an dem Tag, als auf dem Dan Ryan Expressway die Motorhaube des blauen hochkam und sich vor die Windschutzscheibe legte. Ich erinnere mich sehr genau, dass ich damals nirgendwo anders auf der Welt sein wollte als neben Tom auf dem von Schalldämpfern und Auspuffrohren übersäten Randstreifen, während er die Haube des Ghia wieder mit einem Stück Draht befestigte.
    Als ich am College ernsthaft zu schreiben begann, benutzte ich eine schwarze Remington, ein wahres Ungetüm, das sich beinahe dreißig Zentimeter auf meinem Schreibtisch erhob, so viel wie eine kleine Klimaanlage wog und beim Tippen meine gesamte Karpalkraft beanspruchte. Später schrieb ich meinen ersten Roman und die Hälfte meines zweiten auf zwei tragbaren Silver-Reed-Schreibmaschinen (fünfzig Dollar 1980, schlappe neunundsechzig Dollar 1985). Wenn sie kaputt gingen, reparierte ich sie. In der Woche, als mir mehrere Zeitschriften fünf Kurzgeschichten mit einem Ablehnungsbrief zurückschickten, war es mir ein Triumph, dass ich die Nylonschnur, die den Wagen voranzog, durch Zahnseide ersetzte.
    Für Reinschriften teilten meine Frau und ich uns eine achtzehn Kilo schwere elektrische Smith-Corona. Unser alter ChevyNova war eindeutig ein Schönwetterauto, und die Smith-Corona ging offenbar immer nur kaputt, wenn es schneite. Anfang der achtziger Jahre türmte sich in Boston der Schnee zu hohen Wehen, über die meine Frau und ich, eingemummt wie Bauern, hinwegstapften und die Smith-Corona zum Harvard Coop mehr zerrten als trugen. Irgendwo in den Tiefen des Coop hauste ein Mann namens Mr.   Palumbo. Von Angesicht zu Angesicht begegnet bin ich Mr.   Palumbo nie, aber wir haben öfter telefoniert.

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