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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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der Einzelhaft ab. Um die Mitte des 20.   Jahrhunderts hatten Gerichtsentscheide der Verhängung von Einzelhaft als disziplinarischer Maßnahme enge Grenzen gesetzt. Zu Beginn der siebziger Jahre hingegen wurde der Gedanke einer ständigen Einschließung als «Segregation» zu «administrativen» Zwecken wieder aufgegriffen. Isolation nicht als Bestrafung, sondern als Mittel zur Kontrolle der Häftlinge galt als «administrativ» und daher in Ordnung.
    Hochsicherheitsgefängnisse sind Ausdruck sich verhärtender Fronten zwischen der Gesellschaft und ihren kriminellen Produkten, und inzwischen gibt es sie in über fünfundzwanzig Bundesstaaten. Das berüchtigtste «Supermax» steht in Kalifornien,wo das Scheuklappendenken einer rachsüchtigen Öffentlichkeit im Verbund mit zunehmender Bandenkriminalität innerhalb von Gefängnismauern zum Bau einer riesigen Hightech-«Kontrolleinheit» in Pelican Bay, nahe der Grenze zu Oregon, geführt hat. Im Januar 1995, fünf Jahre nach der Eröffnung der Anstalt, wurden mehrere Aspekte der dortigen Bestrafungsformen von einem Bundesbezirksrichter namens Thelton Henderson als grausam und ungewöhnlich bezeichnet; Henderson sagte sinngemäß, der Wunsch der Kalifornier, «sie einzusperren und den Schlüssel wegzuschmeißen», habe einen Albtraum geschaffen. Den Häftlingen in Pelican Bay wurde grundsätzlich der Zugang zu medizinischer und psychologischer Betreuung verweigert, sie waren willkürlicher Gewalt durch das Wachpersonal ausgesetzt und zeigten Symptome psychischer Schädigungen   – Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche, Selbstmordgedanken, einen gesteigerten Hass auf die Gesellschaft   –, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von langer Isolation verursacht worden waren. Doch da Richter Henderson nicht so weit ging, die Einrichtung zu schließen, betrachteten die Vertreter des Staatsgefängnisses sein Urteil als Sieg.
    Das Erste, was mir im ADX Florence auffällt, sind die Fußböden. Sie sind überwiegend aus Linoleum mit Schachbrettmustern und speziellen Mischfarben wie Adoberot und Mohngrau belegt, und sie sind zu einem beachtlichen Glanz gewachst und poliert. Sie sehen aus, als bettelten sie um Aufmerksamkeit und lobende Erwähnung. Aber auch die Sauberkeit im ADX, die Solidität der Stahlarmaturen, die adretten weißen Hemden und granatroten Krawatten, ja überhaupt die außerordentliche Gepflegtheit des Wachpersonals, die verwirrend verwinkelte Anlage des Baus und seine unaufdringlichen, aber effektiven Abläufe: das alles liegt offen vor Augen. Tatsächlich kann man in den Hochglanz des Ganzen sogar das bewusste Bemühen hineinlesen, den Makel, den das Konzept einer «Kontrolleinheit» durchPelican Bay und den Vorgänger des ADX in Marion, Illinois, erhalten hat – ein Supermax, dessen Reputation immer wieder von Amnesty International beschädigt wurde   –, wegzuwienern.
    Doch noch während ich den Glanz im ADX bewundere, gibt es Dinge, die mir erst auffallen werden, nachdem ich gegangen bin. Erst wenn ich wieder in meinen glühenden Wagen steigen und mir beim Trinken aus der Wasserflasche, die ich darin liegengelassen habe, fast den Mund verbrennen werde, wird mir aufgehen, dass die Temperatur im ADX perfekt gewesen ist. Dasselbe gilt für den Geruch, den es dort eigentlich nirgends gibt, abgesehen von einem Gang, in dem ich den Hauch von etwas Angenehmem, etwas im Grenzbereich zwischen organisch und anorganisch Angesiedeltem erhasche – frischer Spachtelmasse vielleicht. Ideal ist die Beleuchtung des ADX: niemals grell, immer gut zum Lesen. Die Geräusche: kein Rasseln, kein fernes Geschrei, keine blaffende Sprechanlage. Die automatischen Türen summen beim Aufgehen und klacken ohne Echo zu. Mr.   Winn spricht leise –
     
    MR. WINN (zu einem vorbeigehenden Polizisten): Wie läuft’s?
    POLIZIST (beunruhigt, sich näher hinbeugend):
Was sagten Sie?
    MR. WINN (matt, enttäuscht): Ich sagte, wie läuft’s?
    POLIZIST (sichtlich erleichtert): Oh, gut, gut.
     
    – aber ich kann ihn mühelos verstehen. Fast möchte ich sagen, die Atmosphäre im ADX ist eine des sinnlichen Entzugs. Doch der Eindruck, den die Anstalt beim Besucher hinterlässt, ist nicht einer des Entzugs, sondern des Friedens. Und tatsächlich ertappe ich mich auf meiner Tour mehr als einmal bei dem Gedanken, dass es
ein hervorragender Ort zum Lesen und Schreiben
wäre. Allerdings bin ich großen Kontrollsystemen gegenüber zu misstrauisch, um anzunehmen, dass Mr.   Winn mir diesen

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