Anleitung zum Alleinsein
ich soll mir eine Zeit aussuchen. Da habe ich eben einfach mal so dreizehn Uhr gesagt.»
Traurig schüttelt er den Kopf. Er habe den Eindruck gehabt, ich könne erst ab dreizehn Uhr. Er sei ja ein Morgenmensch. Wenn er geahnt hätte …
Ray Luc Levasseur kommt aus der Arbeiterschicht, ein Frankokanadier aus Maine. Er ist kräftig gebaut und überzogen mit Tätowierungen, und er zeigt die beherrschte Nervosität eines Mannes, der mit einem einzigen Zug eine halbe Zigarette wegrauchen könnte. Er hat einen Schnurrbart und so dichte, dunkle Augenbrauen, dass man meinen könnte, er hätte nicht nur einen Schnurrbart, sondern drei.
Von 1974 bis 1984 lebte er im Untergrund und arbeitete für eine Organisation, die sich auf Bombenanschläge gegen Feinde der internationalen Arbeiterklasse in Militär und Unternehmen spezialisiert hatte. Nach einiger Zeit auf der FB I-Liste der zehn meistgesuchten Männer wurde er 1984 gefasst.
«Ich sehe sehr wenig fern, meistens Nachrichten und ab und zu mal Baseball», sagt er. «Wenn das Radio es tut – was seit ein paar Wochen nicht mehr der Fall ist –, höre ich manchmal NPR.» Mithäftlinge sieht er nur dreimal die Woche draußen während der Freistunde im Hof. Er hat eine Frau und drei Töchter, die er das letzte Mal 1989 im Arm gehalten hat.
Von jedem Häftling im Bundesvollzug wird erwartet, dass er an einem Rehabilitations«programm» teilnimmt – Drogen- oder Alkoholentzug, Berufsausbildung, Fabrikarbeit. Um aus dem ADX herauszukommen, muss sich ein Häftling nicht nur an die Regeln halten, sondern auch ein «Programm» absolvieren. Was Levasseur unter anderem zu einem «Politischen» macht, sind seine Weigerungen. In Marion weigerte er sich, in einer Fabrik zu arbeiten, die Koaxialkabel fürs Militär herstellte. «Die können mich treten und so lange hier behalten, wie sie wollen», sagt er mir, «aber Sachen fürs Militär oder für die Polizei mache ich nicht, Punkt. Niemals.» Und über die Arbeit in der Möbelfabrik, die unlängst im ADX eröffnet wurde: «Ich finde den Einsatz von Häftlingen als vertraglich gebundene Diener oder Sklaven grundsätzlich falsch.»
Ich frage ihn nach den Wärtern im ADX.
«Ich hab noch keinen gesehen, der von hier ist», sagt er. «Die sind alle importiert. Das Gute daran ist, dass es hier, anders als in Marion, keinen Klüngel gibt. In Marion war’s schrecklich, da hat jeder für seinen Vetter gearbeitet, verstehen Sie, und die haben so eine richtig miese Scheiße mit einem gemacht, weil sie ja wussten, sie kommen damit durch. Hier ist es nicht so schlimm, weil sie alle neu sind. Aber ich hab das Gefühl, mit der Zeit geht das mit der Klüngelscheiße auch hier los. Ich glaube, Gefängnisse fördern so was.»
Mr. Winn, der dicht neben mir steht, seufzt exakt alle fünf Minuten.
Ich frage Levasseur, ob er sich zu den Schlimmsten der Schlimmsten zählt.
«Leute wie Robert McNamara», sagt er, «die haben eine ganze Menge mehr Leute umgebracht als ich. Das ist das Problem. Wenn Sie Verbrechen so definieren, dass einer eine Crackpfeife raucht oder einen Bruch macht oder so was, dann hat man am Ende immer sehr schwarze und sehr arme Leute. Okay? Aber danebengibt’s die ungeheuren Verbrechen, die Typen wie McNamara begehen. Und Union Carbide, was die da in Indien gemacht haben, die haben achttausend Leute umgebracht.» Nachdenklich senkt er ein wenig die Stimme. «Natürlich hat man mir einen Bombenanschlag auf Union Carbide angelastet.» Er kichert, reibt sich das Gesicht und fasst sich dann wieder. «Kleiner Preis für das Leben dieser Leute.» Er zeigt auf Mr. Winn. «Der da
verehrt
einen wie Robert McNamara wahrscheinlich. Der sieht nicht, was die so verbrechen.»
Mr. Winn ergreift die Gelegenheit, um kühl zu mir zu sagen: «Haben Sie noch letzte Fragen an ihn?»
Ich zucke die Achseln.
Levasseur zuckt die Achseln.
Ich sage ihm, dass ich ihm schreiben werde.
Als er weg ist, lässt uns ein Wärter auf unserer Seite des Kontaktbesuchsraums hinaus. Uns bleiben noch fünfundzwanzig Minuten für einen Rundgang durchs ADX. Zeit genug, um durch eine Vielzahl klimatisierter Korridore zu gehen, das unzerstörbare Beton-Mobiliar einer leeren Zelle in Augenschein zu nehmen (die Zelle ist grau, ungefähr zwei mal dreieinhalb Meter groß, und sie hat ein Waschbecken-Toiletten-Trinkbrunnen-Ensemble, ein Bett und einen Schreibtisch aus Beton, einen eingebauten elektrischen Zigarettenanzünder und ein schmales Fenster, das
Weitere Kostenlose Bücher