Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anleitung zum Müßiggang

Anleitung zum Müßiggang

Titel: Anleitung zum Müßiggang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hodgkinson
Vom Netzwerk:
die zu Beobachtungen führte, für die andere zu beschäftigt waren: über den Tod der Gemütlichkeit, den Witz von Markthändlern, die Vergeblichkeit von »Selbsthilfe«.
    Im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter der Romantik, wurden Spaziergänge aufs Land zur großen Mode. Die Naturdichter Wordsworth und Coleridge waren berühmte Spaziergänger. In den Jahren unmittelbar nach der Französischen Revolution schlenderten sie die ganze Küste von North Devon und Somerset entlang, und später wanderten sie im Lake District. Das Wandern war für sie ein entscheidender Bestandteil der schöpferischen Arbeit, denn dabei dachten sie nach, träumten und sammelten Bilder. Landspaziergänge waren von zentraler Bedeutung für ihre neue poetische Philosophie, dargelegt in Lyrical Ballads (1798) über die Rückkehr zu Natur und Einfachheit. In seiner Biographia Literaria (1817) schreibt Coleridge:
    Meine Spaziergänge unternahm ich fast täglich auf dem Quantock und seinen sanft abfallenden Hügelkämmen. Mit meinem Bleistift und dem Notizbuch in der Hand machte ich Studien, wie das der Künstler nennt, und oft formte ich meine Gedanken zu Versen, wobei ich die Gegenstände und Bilder direkt vor meinen Sinnen hatte.
    Und so geschah es auf einer Wanderung entlang der Küste von North Devon, nur wenige Meilen von der Stelle entfernt, an der ich im Augenblick sitze, dass Coleridge an der heute berühmten Ash Farm Halt machte, Opium nahm und »Kubla Khan« ersann, möglicherweise niederschrieb.
    Genauso wie städtisches Flanieren als staatsgefährdend angesehen werden kann, wurden die Spaziergänge dieser Dichter von den Behörden der Zeit mit Argwohn betrachtet. Es wurde vermutetet, dass die beiden, die für ihre radikalen Ansichten bekannt waren, nichts Gutes im Schilde führten, sondern »sich mit Vorsatz herumtrieben«. Ein vom Innenministerium ausgeschickter Spion, der ihre Aktivitäten überwachen sollte, sah die beiden Dichter sich am Flussufer Notizen machen und vermutete, sie planten, für einen bevorstehenden Aufruhr Feuerwaffen aus Bristol herbeizuschaffen. Der Agent der Regierung, dem Coleridge in seiner Biographia Literaria den Spitznamen Spy Nozy gab, beschrieb das Paar als »eine schädliche Bande unzufriedener Engländer« und ein »Gespann gewaltbereiter Demokraten«.
    Kein Kapitel über das Spazierengehen wäre vollständig ohne einen Hinweis auf den Privatdetektiv, der im neunzehnten Jahrhundert auf der Bildfläche erschien. Er ist eine reizvolle Figur, gerade weil er in der Hauptsache ein Müßiggänger ist, wie Walter Benjamin im Passagen-Werk schrieb:
    In der Figur des Flaneurs hat die des Detektivs sich präformiert. Dem Flaneur musste an einer gesellschaftlichen Legitimierung seines Habitus liegen. Es passte ihm ausgezeichnet, seine Indolenz als eine scheinbare präsentiert zu sehen, hinter der in Wirklichkeit die angespannte Aufmerksamkeit eines Beobachters sich verbirgt, der den ahnungslosen Missetäter nicht aus den Augen lässt.
    Wie wahr Benjamins Beobachtung ist, zeigt sich an der Figur des großen literarischen Flaneurs Sherlock Holmes, der, so vermuten wir, Detektiv wurde, weil er es liebte, in seiner erdichteten Welt herumzulungern, zu beobachten, nachzudenken, zu spazieren. Wie der Dichter verrichtet der Detektiv seine Arbeit sitzend und laufend. Er leidet nicht unter der Gesellschaft, sondern er beobachtet sie, er steht außerhalb von ihr, er genießt sie, er lächelt über ihre Schwächen. Und so kann Holmes sich den in unseren Augen – knapp an Zeit wie wir sind – ungeheuren Luxus langer Stadtspaziergänge erlauben; in »The Resident Patent« sagt er zu Wilson: »Was halten Sie von einem Spaziergang durch London?« Und los geht’s, zu einem dreistündigen Spaziergang. Drei Stunden! Wann bist du das letzte Mal drei Stunden in angenehmer Gesellschaft oder allein in der Stadt herumgeschlendert? Keine Zeit! Zu beschäftigt! Zu viel zu tun!
    Und wer hat heutzutage in unseren Städten Zeit und Muße? Wahrscheinlich nur die Obdachlosen. Und ist es nicht möglich, dass einige von den Obdachlosen, die wir bemitleiden, in ihrem Kern eigentlich Flaneure sind? Wir wollen das nicht romantisieren, aber auch heute gibt es eine falsche Vorstellung von den Land- oder Stadtstreichern. Regierungen und wohlmeinende Sozialreformer, die Artikel in liberalen Zeitungen schreiben, sind der Meinung, den Obdachlosen, Stadtstreichern, Vagabunden und so weiter müsse man nur ermöglichen,

Weitere Kostenlose Bücher