Anleitung zum Müßiggang
wieder unsere eigenen Herren. Man sieht es an unseren Gesichtern: Lauf einfach mal um 6 Uhr abends durch die Stadt und schau durch die Fenster von Kneipen und Bars – du wirst lächelnde Menschen sehen, die lebhaft miteinander plaudern. Sie mögen über ihren Chef oder über ihr Schicksal im Allgemeinen klagen, aber für eine kurze Weile, und bevor sie zu den Realitäten daheim zurückkehren, leben sie in einer wundervollen anderen Wirklichkeit, in der jeder ein kleiner König oder eine kleine Königin ist.
Oft möchten wir diesen Augenblick ausdehnen. Wir bleiben trinkend in der Kneipe sitzen und fürchten uns davor, wieder auf die Straße und nach Hause zu gehen. Und dann ruft Männe sein Frauchen an, um sich fürs Zuspätkommen zu entschuldigen; oder Frauchen ruft Männe auf dem Handy an, um zu fragen, wo er eigentlich steckt (oder umgekehrt). Dieses Phänomen war schon in den Zeiten des Mittelalters bekannt, wenn Männe auf seinem Heimweg vom Markt trödelte und das Geld versoff, das er gerade verdient hatte, wie Robert Burns es am Anfang seines Gedichts »Tam O’Shanter« (1790) beschreibt:
Wenn Krämer müde heimwärts wandern,
Ein Nachbar durstig trifft den andern,
Wenn lang der Markttag hat gewährt
Und jeder sucht den eignen Herd,
Dann sitzen wir und zechen fröhlich
Und laufen voll und werden selig
Und denken nicht an lange Wege,
An Sümpfe, Schluchten, Schafsgehege,
Durch die es heimzukommen gilt,
Wo unsere Dame sitzt und schilt,
Die Stirne zieht in stürmische Falten
Und ihre Wut nicht lässt erkalten.
Auch auf die Zeit hat der Drink eine gewisse Wirkung. Die Stunden, die wir gerade im Büro, im Laden oder in der Fabrik zugebracht haben, schleppten sich hin, sie waren endlos. Wir dachten, es würde nie mehr 18 Uhr werden. Meine Mutter erzählt eine Geschichte aus den siebziger Jahren, als sie als Journalistin in der Fleet Street arbeitete. Die meisten ihrer Kollegen schienen starke Trinker zu sein, und das war in den dunklen Zeiten, als die Pubs von nachmittags drei bis halb sechs geschlossen waren. Sie sagt, so um fünf herum begann ihr Kollege Jack zur Uhr hochzuschauen und alle zwei Minuten zu quengeln: »Machen die Pubs denn nie mehr auf?«
Aber kaum ist man in der Bar oder Kneipe, vergeht die Zeit wie im Fluge. »Ist es schon so spät?«, hört man Leute sagen. »Ich habe versprochen, spätestens um acht zu Hause zu sein.« Wir haben uns vorgenommen, den Pub um halb acht zu verlassen; plötzlich ist es neun, und das Abendessen steht in der Ofenröhre.
Sechs Uhr ist genau die richtige Zeit für Unterhaltungen, wenn wir genug Alkohol intus haben, um unser Hirn mit quietschfideler Energie zu füttern, aber nicht so viel, dass wir zum Lallen, Schreien, Fluchen und zu persönlichen Angriffen herabgesunken sind. Es ist der Moment, wo einem Ideen zufliegen und wir im reinen Vergnügen des Miteinanders schwelgen. Es ist genau die richtige Zeit für einen Ideenaustausch.
Dieses Phänomen »Belebungsmittel« bemerkte auch der große Maler und Freund Dr. Johnsons, Sir Joshua Reynolds, der sagte: »Ich bin in sehr guter Stimmung, wenn ich am Morgen aufstehe. Um die Mittagszeit bin ich erschöpft; Wein bringt mich in denselben Zustand zurück wie zu der Zeit, als ich aufstand; und ich bin mir sicher, dass maßvolles Trinken die Leute dazu bringt, dass sie besser reden können.«
In diesem Punkt war Johnson nicht seiner Meinung; er meinte, Alkohol gebe einem nur die Illusion, man könne besser reden, nicht mehr. Für ihn hieß trinken: vergessen. »Ich habe mich damals oft danach gesehnt und oft danach gegriffen ... um mich von mir zu befreien, um mich loszuwerden. Wein verschafft großes Vergnügen, und jedes Vergnügen ist an sich etwas Gutes. Es ist etwas Gutes, sofern ihm nicht Verderbtheiten die Waage halten. Jemand kann starke Gründe haben, keinen Wein zu trinken; und die können größer sein als das Vergnügen. Wein lässt einen Menschen zufriedener mit sich sein. Ich sage nicht, dass andere dadurch zufriedener mit ihm sein müssen.«
Im Paris des späten neunzehnten Jahrhunderts war dieses Sechs-Uhr-Gefühl so weit verbreitet, dass es seinen eigenen Namen erhielt, L’Heure Verte, die Grüne Stunde. So wurde sie nach der Farbe des Absinths genannt, der damals getrunken wurde. Vielleicht konnte es L’Heure Verte zu keinem früheren Zeitpunkt geben, weil nie zuvor so viele Menschen einen derart ähnlichen Zeitplan einhalten mussten. Denn eine der Auswirkungen der Industriellen
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